Universität Wien: Neue Forschungsergebnisse über die Entstehung chronischer Schmerzen

Die Arbeitsgruppe von Univ.-Prof. Jürgen Sandkühler, dem Leiter der Abteilung für Neurophysiologie am Institut für Hirnforschung der Universität Wien, ist den Ursachen von chronischen Schmerzen einen entscheidenden Schritt näher gekommen. Die aktuellen Forschungsergebnisse erscheinen am 21. Februar 2003 in der renommierten Zeitschrift Science.

Bei chronischen Schmerzen ist die Schmerzempfindlichkeit häufig erheblich gesteigert, so dass ursprünglich harmlose Reize starke Schmerzempfindungen auslösen. Dies hat für PatientInnen häufig zur Folge, dass die Verrichtungen des täglichen Lebens nur unter Schmerzen oder gar nicht mehr zu bewältigen sind. Univ.-Prof. Jürgen Sandkühler und sein Team haben herausgefunden, dass für die krankhaft gesteigerte Schmerzempfindlichkeit eine zahlenmäßig kleine, bislang kaum beachtete Gruppe von Nervenzellen im Rückenmark verantwortlich ist und erforscht nun, auf welche Weise diese Nervenzellen eine gesteigerte Schmerzempfindlichkeit vermitteln.

Die WissenschafterInnen haben mit modernen Messverfahren an Gewebeproben "im Reagenzglas" zeigen können, dass diese Nervenzellen im Rückenmark auf harmlose Schmerzreize wie andere Nervenzellen mit einer Erregung antworten und diese an das Gehirn weiterleiten. Bei sehr starken Schmerzreizen antworten diese Nervenzellen gleich der anderen mit einer entsprechend verstärkten Erregung. Das Neue an dieser Gruppe von Nervenzellen im Rückenmark ist, dass sie - und das unterscheidet sie von anderen Nervenzellen - ihre Eigenschaften nach einem starken Schmerzreiz verändern. Sie werden überempfindlich und reagieren bereits auf schwache Impulse in Schmerzfasern mit starken Erregungen.

An dieser Überempfindlichkeit sind Überträgerstoffe wie das Neuropeptid Substanz P beteiligt, die bei starken Schmerzreizen im Rückenmark freigesetzt werden. Die Nervenzellen, die mit einer Steigerung der Empfindlichkeit reagieren, haben als Besonderheit Bindungsstellen für die Substanz P. Die Bindung des Neuropeptids Substanz P führt zu einer Reihe von Veränderungen in diesen Nervenzellen, die letztlich in eine Überempfindlichkeit münden. Zusätzlich haben diese speziellen Nervenzellen im Rückenmark eine besondere Art von Poren für Kalzium Ionen (vom T-Typ). Bei Erregung öffnen diese Nervenzellen Poren und lassen Kalzium in die Zellen einströmen, wodurch eine weitere Kette von Reaktionen ausgelöst wird, welche die Empfindlichkeit der Nervenzellen nochmals steigert.

Insgesamt führen diese Veränderungen dazu, dass nach starken Schmerzreizen vormals harmlose Reize krankhaft gesteigerte Erregungen auslösen. Diese Übererregbarkeit ist gewissermaßen eine "Gedächtnisspur" im Nervensystem, die anzeigt, dass es bereits einmal einen starken Schmerzreiz als Auslöser dieser Veränderung gegeben hat. "Schmerzspuren" können über lange Zeiträume im Nervensystem nachweisbar bleiben. Dies kann erklären, warum bei einigen PatientInnen chronische Schmerzen bleiben, auch wenn die eigentliche Ursache der Schmerzen längst geheilt oder verschwunden ist.

Die Entdeckung dieser Nervenzellen und der zu Grunde liegenden Mechanismen erlaubt es nun, viel gezielter nach Verfahren zu forschen, die die Entstehung des "Schmerzgedächtnisses" verhindern oder ein bereits entstandenes "Schmerzgedächtnis" wieder löschen können. Literatur: Ikeda, H., Heinke, B., Ruscheweyh, R. und Sandkühler J., Synaptic plasticity in spinal lamina I projection neurons that mediate hyperalgesia, Science, Vol. 299, February 21st, 2003.

Rückfragehinweis:

Univ.-Prof. Dr. Jürgen Sandkühler

Institut für Hirnforschung Universität Wien

Spitalgasse 4, 1090 Wien

Tel.: +43-1-4277-628 34

Fax: +43-1-4277-628 65

Email: juergen.sandkuehler(at)univie.ac.at

Web: www.j-sandkuehler.net

Mag. Veronika Schallhart

Zentrum für Forschungsförderung, Drittmittel und Öffentlichkeitsarbeit

 Universität Wien

Dr. Karl Lueger-Ring 1,

1010 Wien

Tel.: +43-1-4277-18182

Fax: +43-1-4277-9181

Email: veronika.schallhart(at)univie.ac.at