Aus dem Krisengebiet auf die Schulbank
| 29. Juni 2016"Die Flüchtlinge als solche gibt es nicht". Was in den Augen mancher zunächst eine homogene Menschenmasse war, birgt zweifellos eine beträchtliche Vielfalt an Individuen. ForscherInnen der Universität Wien analysieren die daraus resultierenden Chancen und Herausforderungen an das Bildungssystem.
Die Flüchtlingsbewegung kann für Österreich und Europa in vielerlei Hinsicht ein Anlass sein, bisherige Strukturen neu zu denken. Ein wichtiges Beispiel dafür ist das Bildungssystem. Um für das Gemeinwohl und für die einzelnen Menschen sinnvolle Anpassungen vorzunehmen, bedarf es jedoch einer gründlichen Analyse des Status Quo.
Tatjana Atanasoska vom Zentrum für LehrerInnenbildung und Michelle Proyer vom Institut für Bildungswissenschaft untersuchen im Rahmen ihres Forschungsprojekts "On the brink of education", wie es geflüchteten Jugendlichen in Österreichs Bildungssystem bislang gelingt, sich einzufinden. Die Bildungswissenschafterinnen haben sich im Rahmen der Gründung der Initiative SOLIdee kennengelernt und entschieden sich daraufhin gemeinsam, ein Forschungsprojekt dazu ins Leben zu rufen.
"Mit den Jugendlichen sprechen, statt über sie"
Die befragten Jugendlichen mit Fluchterfahrung sind im Alter von zwölf bis 16 Jahren und leben seit einem bis vier Jahren mit positivem Asylbescheid in Österreich. Die bisherige Untersuchung konzentriert sich auf SchülerInnen, die aktuell eine Schule der Sekundarstufe I oder II oder Ausbildungen in der Erwachsenenbildung besuchen. "Seit Jänner dieses Jahres läuft unsere Erhebung. Zusätzlich zu den involvierten Jugendlichen befragen wir ExpertInnen wie SozialarbeiterInnen, LehrerInnen und Personen aus der Erwachsenenbildung, um Erfahrungswerte beider Seiten zu sammeln", erklärt Atanasoska. Letztere sind deshalb relevante InterviewpartnerInnen, zumal sie oft als RatgeberInnen agieren, wenn es beispielsweise um den nächsten Schritt im Bildungssystem geht.
VERANSTALTUNGSTIPP:
Podiumsdiskussion: Von der "Flüchtlingskrise" zur inklusiven Perspektive am 1. Juli
Am 1. Juli 2016 findet die Podiumsdiskussion "Von der 'Flüchtlingskrise' zur inklusiven Perspektive" im Rahmen der Tagung "Inklusive Perspektiven auf Flucht und Bildung" am Institut für Bildungswissenschaft in der Sensengasse 3a statt. Programm (PDF)
Erste Tendenzen
Eine Herausforderung an das österreichische Bildungssystem, die sich bereits abzeichnet, betrifft das unterschiedliche Bildungsniveau der befragten Jugendlichen beim Einstieg. Je nach Herkunftsregion differiert der Wissensstand bzw. die Art und das Ausmaß der schulischen Bildung stark. Nicht selten tun sich Unterschiede auf, obwohl dieselbe Anzahl an Schuljahren absolviert wurde. Zurückzuführen ist dies auf Diskrepanzen zwischen den Lehrplänen der Herkunftsregionen.
Laut Tatjana Atanasoska berichten die Heranwachsenden selbst auch Positives über ihre bisherige Schullaufbahn in Österreich, insbesondere in Bezug auf die Neuen Mittelschulen: "Die NMS haben langjährige Erfahrung mit QuereinsteigerInnen, die nicht Deutsch sprechen. Den Erzählungen zufolge haben sich die Jugendlichen gut aufgehoben gefühlt. Natürlich war nicht alles super, es war oft schwierig, aber im Großen und Ganzen ein positives Feeling."
Herausforderung als Denkanstoß?
Österreich fehlt laut Michelle Proyer bislang eine adäquate Antwort auf Multikulturalität und Interkulturalität. Einwanderung als gesellschaftliches Phänomen existiert seit Jahrzehnten. Jedoch fehlt ihrer Meinung nach das notwendige Bewusstsein für die Realitäten, die Einwanderung in österreichischen Klassenzimmern schafft – es sei längst kein Einzelfall mehr, wenn die Erstsprache bei mehr als 50 Prozent der Kinder einer Klasse nicht Deutsch ist. "Das Positive an der derzeitigen Situation ist, dass Österreich nun die Chance ergreifen kann, sich Gedanken über Multikulturalität zu machen", ist die Bildungswissenschafterin überzeugt.
Für ihre Kollegin Tatjana Atanasoska liegt die Chance des Forschungsprojekts darin, neue Erkenntnisse über den Zugang zu Bildung für ehemals geflüchtete Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zu erlangen und die Bildungsmöglichkeiten zu verbessern.
Die BIWI-SOLIdee ist eine Initiative engagierter Menschen rund um das Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien. Als Teil der Zivilgesellschaft hat die Initiative es sich zur Aufgabe gemacht, angesichts der Situation geflüchteter Menschen in Österreich und Europa Verantwortung zu übernehmen und einen Beitrag zur Inklusion jener Menschen zu leisten. (Foto: BIWI-SOLIdee)
Abholen statt Nachholen
Die gewonnenen Erkenntnisse der Wissenschafterinnen sollen den PädagogInnen von morgen dabei helfen, auf unterschiedliche Bildungsbiografien zu reagieren. Ist das Bildungssystem künftig dazu in der Lage, Menschen von vornherein auf ihrem Bildungsniveau abzuholen, ersparen sich die Gesellschaft und das Individuum spätere Schwierigkeiten nicht nur auf dem Arbeitsmarkt.
Nun wollen Tatjana Atanasoska und Michelle Proyer die Untersuchungen auf die Gruppe der sogenannten "unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge" ausweiten: "Die ExpertInneninterviews gaben Hinweise darauf, dass sich die 'UMF' oftmals in einer anderen Situation im Hinblick auf Bildungsaspiration und -zugang zum Schulsystem befinden."
Auf lange Sicht ist es das Ziel der Forscherinnen, die derzeit an der Analyse und Publikation der Daten arbeiten, die Diversität geflüchteter Jugendlicher im Schulsystem zu beleuchten – oder wie es Tatjana Atanasoska formuliert: "Die Flüchtlinge als solches gibt es nicht. Gerade für die Schule ist natürlich wichtig, die sehr heterogenen Schulerfahrungen und Spracherfahrungen, Hoffnungen, Wünsche zu verstehen." (hma)
Das Forschungsprojekt "On The Brink Of Education – Junge Flüchtlinge im österreichischen Bildungssystem" unter der Leitung von Mag. Dr. Michelle Proyer und Mag. Tatjana Atanasoska läuft von 2016 bis 2018 im Rahmen der Initiative "BIWI-Solidee". Als Projektmitarbeiterin fungiert Camilla Pellech, BA.