Dem Kunsterlebnis auf der Spur

Ein kalter Schauer, Zufriedenheit oder eine veränderte Weltansicht – Kunst ruft ganz unterschiedliche Reaktionen hervor. In einem EU-Projekt führt Matthew Pelowski von der Universität Wien empirische Experimente in Museen durch, um den psychologischen Aspekten von Kunstfaszination auf die Spur zu kommen.

Was fühlen oder denken wir, was verändert sich in uns, wenn wir Kunst betrachten? Matthew Pelowski, Psychologe an der Universität Wien und selbst mit einem Kunstabschluss ausgestattet, ist von solchen Fragen seit jeher fasziniert. "Obwohl bekannt ist, dass Kunst Emotionen auslöst, werden die Beschaffenheit der Kunsterfahrung und die Wahrnehmung von Emotionen noch immer heiß diskutiert", erklärt Pelowski. In dem EU-geförderten Projekt ARTIS untersuchen er und seine Kolleg*innen diese Aspekte mittels empirischer Forschung in Museen, Galerien und an öffentlichen Orten, unter anderem in der Albertina in Wien. Es soll der Frage nachgegangen werden, wie Emotionen zusammenspielen, um ästhetische Erfahrungen zu ermöglichen.

Mithilfe von Daten ästhetische Erfahrung verstehen

Das internationale Projekt ist in die laufende Forschung an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien eingebettet. Sie ist die erste psychologische Fakultät mit einem Forschungsschwerpunkt im Bereich visuelle empirische Ästhetik, an der die komplexe Beziehung zwischen Stimulus und menschlicher Wahrnehmung untersucht wird. International gesehen nimmt die Fakultät damit eine Vorreiterrolle in der psychologisch-empirischen Kunstforschung ein.

Die methodologischen Ansätze von ARTIS reichen von Umfragen und mathematischen Modellierungen über mobiles Eye-Tracking bis hin zu integrierten Kameras und Bewegungsverfolgung in Kunsträumen. Einer der spannendsten und gleichzeitig erfolgversprechendsten Ansätze ist das mobile Scannen des Gehirns: Mithilfe von nahem Infrarotlicht wird aufgezeigt, wie unser Gehirn auf Kunst reagiert. "Das Licht durchdringt Haut und Knochen, reagiert aber anders, wenn es auf Hämoglobin trifft. Durch diese Reaktion verrät uns das Infrarotlicht, welche Hirnregion gerade mit Sauerstoff versorgt wird. Wenn es schließlich das Gehirn erreicht, bricht es und gibt Aufschluss über die Aktivität der verschiedenen Hirnregionen während der Rezeption von Kunst", so Pelowski.

Matthew Pelowski ist Psychologe und beschäftigt sich mit Bilddarstellungsmethoden des Gehirns, Ästhetik, sozialen Neurowissenschaften und Museumsforschung. Bevor er 2015 an die Universität Wien kam, forschte er unter anderem an der Nagoya University sowie der Universität Kopenhagen. Matthew Pelowski leitet das EU-Projekt ARTIS (engl. Art and Research on Transformations of Individuals and Society) und erhielt aktuell im Rahmen der neuen #ConnectingMinds-Förderung des FWF eine Million Euro für sein transdisziplinäres Projekt "Unlocking the Muse". Darin untersucht er gemeinsam mit Praxispartnern aus den Niederlanden die Überschneidung von zwei zentralen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Themen: den neurobiologischen Grundlagen der künstlerischen Kreativität und der weltweit am stärksten ansteigenden neurodegenerativen Erkrankung, Morbus Parkinson (© Martin Zimmermann)

Museumsforschung unter Corona-Bedingungen

"Einige unserer Vorhaben konnten wir bereits umsetzen", sagt Pelowski. "Wir haben zum Beispiel herausgefunden, dass sich Empathie und Haltungen wie zum Beispiel Xenophobie oder Umweltbewusstsein vor und nach dem Kunsterlebnis voneinander unterscheiden." Aufgrund der COVID-19-Pandemie kam es allerdings zu einem zwischenzeitlichen Stillstand in der (Kunst-)Welt, wie auch in vielen anderen Bereichen der Museumsforschung. Matthew Pelowskis Projektkolleg*innen wussten die Zeit dennoch produktiv zu nutzen und initiierten eine Zusammenarbeit mit einer Kunstgallerie im Berliner Bezirk Wedding, die dank eines zur Straßenseite ausgerichteten Schaufensters weiterhin ausstellen durfte. "Dort konnten wir unser Design in der Praxis testen – unter Corona-Bedingungen."

Bento-Boxen oder Kunsterlebnis?

Da viele Museen ihr Angebot an Online-Ausstellungen ausweiteten, führte das Forschungsteam auch Online-Experimente durch. MacKenzie Trupp, Doktorandin in der Vienna Doctoral School for Cognition, Behaviour and Neuroscience (CoBeNe), hat im Rahmen einer Ausstellung zu Monets Seerosen untersucht, ob das Betrachten von Kunstwerken über einen Bildschirm Gefühle von Einsamkeit lindern kann (zur Studie). "Die Daten deuten darauf hin, dass Online-Kunst zumindest dazu beiträgt, sich weniger schlecht, ängstlich und gestresst zu fühlen", fasst Pelowski zusammen. Interessanterweise kamen die Wissenschafter*innen im Rahmen einer Untersuchung zu den Auswirkungen einer kuratierten Ausstellung japanischer Bento-Boxen zu sehr ähnlichen Ergebnissen. "Eine Bento-Box ist zwar kein Kunstwerk, sie eignet sich aber ebenso gut, Menschen ein besseres Gefühl zu geben."

Dies wirft unweigerlich die Frage auf, welche Mechanismen beim kurzen Betrachten von Kunstwerken freigesetzt werden und zu mehr Wohlbefinden führen, so Pelowski. Hauptgrund für eine solche Reaktion könnte die Tatsache sein, dass sich die Menschen mit etwas Interessantem, Fesselndem visuell Stimulierendem auseinandersetzen, das sie von der derzeitigen COVID-Situation ablenkt.

uni:view: Herr Pelowski, was ist der Wert von Kreativität?
Matthew Pelowski: "Kreativität und die Fähigkeit, selbst Kunst zu erschaffen und wertzuschätzen, waren für uns Menschen vermutlich schon immer wichtig. Der Besuch eines Naturkundemuseums, einer Höhlenwand, klassischerweise eines Kunstmuseums oder vielleicht sogar eines Volksschulklassenraums bestätigt diese Annahme. Wir schenken vor allem denjenigen Aufmerksamkeit, die etwas visuell einladend oder neu gestalten oder eine mitreißende Geschichte erzählen und damit eine wichtige Erfahrung durch Veränderung unserer Umwelt schaffen. Heute ist Kreativität genauso wichtig. Wir nutzen Kunst, um die Welt und unsere Gesellschaft zu erkunden, unsere Welten und Ideen immer wieder neu schätzen zu lernen, oder sogar unsere Gefühle zu beeinflussen, uns selbst ein paar Momente der Freude oder eine intellektuelle Herausforderung zu schenken oder in das Umfeld unserer Mitmenschen einzutauchen, mit anderen zu teilen oder zu entfliehen. Vor allem in Österreich hängt ein solches Erlebnis stark davon ab, wie viel Zeit, Geld und Raum wir bereit sind, für Kunst aufzuwenden."

Lesen Sie mehr zum Thema "Werte" und wie sie uns im Alltag prägen im Rahmen der aktuellen Semesterfrage "Worauf legen wir noch Wert?" der Uni Wien.

Online-Kunst und kurze Museumsbesuche bieten vielversprechende und spannende Möglichkeiten, unsere Stimmung und unser Wohlbefinden positiv zu beeinflussen. Dennoch betont Pelowski, dass das Wesen und die Wirkung der Kunst vor allem im unmittelbaren Erleben und Erfahren von originären Kunstwerken liegt. "Etwas, das beim Online-Kunsterlebnis oder auch beim Erforschen im Labor zur Gänze fehlt, sind das Umherlaufen, das Erkunden des Raums, das Zusammensein mit anderen Menschen innerhalb des Kunstraums und Sinneswahrnehmungen wie das Sehen, Riechen, Hören oder Betrachten von Kunstwerken. Es gibt eine Menge Fragen, die noch nicht gestellt oder beantwortet wurden."

Die (Kunst-)Welt besser machen

Jetzt, wo die Museen wieder öffnen, setzen Wissenschafter*innen wieder vermehrt auf Forschungsarbeit vor Ort. Auf lange Sicht möchten die Wissenschafter*innen erreichen, dass ihre Ergebnisse dort Anwendung finden, wo sie tatsächlich etwas verändern können: in Museen und Galerien, im Bereich der Kunstausbildung bis hin zur Kulturpolitik. Wenn Sie also das nächste Mal der Albertina einen Besuch abstatten und Besucher*innen mit Umfrageformularen oder gar mit Kappen und Kabeln umherlaufen sehen, schauen Sie doch kurz vorbei und sagen "Hallo" oder fragen nach, ob Sie dabei helfen können, das Geheimnis um die Wirkung der Kunst zu lüften. (hm)

Das EU-geförderte Projekt ARTIS (engl. Art and Research on Transformations of Individuals and Society) unter der Leitung von Matthew Pelowski läuft von Februar 2020 bis Jänner 2025. Es umfasst neun Projektpartner in ganz Europa und wird von der Fakultät für Psychologie der Universität Wien koordiniert.

Die Ästhetik ist eines der Hauptforschungsgebiete der Vienna Doctoral School for Cognition, Behaviour and Neuroscience (CoBeNe) der Universität Wien. Ziel der Doctoral School ist es, den Doktorand*innen der Universität Wien eine strukturierte Ausbildung  zu ermöglichen und gleichzeitig ein Umfeld zu schaffen, in dem interdisziplinäre Forschung und Ausbildung gefördert werden.