Die Erinnerungen der GastarbeiterInnen

Ehemalige GastarbeiterInnen haben Österreich ab den 1960er Jahren maßgeblich mitgestaltet, dennoch ist ihre Geschichte marginalisiert. Daran hat die Kultur- und Sozialanthropologin Monika Palmberger von der Universität Wien angeknüpft und die Erinnerungen von ArbeitsmigrantInnen in Wien erforscht.

Zwischen 1961 und 1974 kamen etwa 265.000 sogenannte "GastarbeiterInnen" nach Österreich – offiziell. Denn da es damals auch für TouristInnen unkompliziert möglich war, in Österreich ein Arbeitsverhältnis einzugehen, liegt die reale Zahl wesentlich darüber. Viele von ihnen kehrten um 1973, zur Zeit der Ölkrise, als man die ausländischen Arbeitskräfte wieder "loswerden" wollte, in ihre ursprüngliche Heimat zurück, aber nicht wenige blieben auch mit ihren Familien in Österreich. Heute gehören die damaligen ArbeitsmigrantInnen zur älteren Generation.

"Sie haben das Nachkriegsösterreich und speziell Wien maßgeblich geprägt, aber ihre Bedeutung wird kaum erfasst", sagt Monika Palmberger vom Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, die sich in ihrem vor einigen Monaten abgeschlossenen FWF-Projekt "Erinnerung verorten" mit der marginalisierten Geschichte dieser GastarbeiterInnen-Generation intensiv beschäftigt hat.

Eine Interviewpartnerin zeigt während des Erinnerungsspaziergangs auf die an Wien grenzenden Dörfer, die sie gemeinsam mit ihrem Mann gerne besucht hat. Dort fanden sie vertraute Arbeitsgeräte vor und auch frisches Gemüse, das sie dann, so wie zuvor in ihrem serbischen Heimatdorf, "eingelegt" haben. "Hier zeigt sich deutlich, dass Raumaneignung auf Erinnerung aufbaut und so Kontinuitäten herstellt", so Monika Palmberger. (© M. Palmberger)

Sprache lernen und arbeiten

Über 30 narrative Interviews hat Palmberger im Projekt mit ehemaligen ArbeitsmigrantInnen, die in Österreich geblieben sind, geführt. Der Großteil davon kommt aus dem vormaligen Jugoslawien sowie der Türkei. "Gerade die türkischen GastarbeiterInnen stellen eine sehr heterogene Gruppe dar. Im Zuge meiner Forschung habe ich mit sunnitischen MuslimInnen, AlevitInnen und KurdInnen gesprochen", so die Sozialforscherin. Ein zentrales Element, das sich durch viele Interviews zieht, ist der große Stellenwert der Erwerbsarbeit, die Erinnerung an die Arbeit und der persönliche Beitrag zum Aufbau Österreichs.

Sprachliche Barrieren gibt es bis heute, besonders bei türkischen Frauen, die oft zu Hause bei den Kindern geblieben sind. "Viele der über 60-jährigen sind nach wie vor abhängig von den Kindern, zum Beispiel bei Behördenwegen", so Palmberger: "Auf meine Frage, ob sie heute etwas anders machen würden als damals, antworteten sie: 'Die Sprache lernen und arbeiten'."

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. Die Semesterfrage im Sommersemester 2019 lautet "Wie werden wir morgen arbeiten?". (© Universität Wien)

U-Bahn-Bau und Nachtschichten

Entgegen der landläufigen Meinung gab es durchaus auch Frauen, die in den 1960er Jahren alleine nach Österreich kamen. "Eine meiner InterviewpartnerInnen war eine alleinstehende Frau, die damals aus Rijeka nach Wien zog", erzählt Palmberger: "Sie hat am Bau der U4 mitgearbeitet und in vielen Nachtschichten Pläne gezeichnet. An so etwas denken WienerInnen wohl kaum, wenn sie mit der U4 fahren."

Die Idee der Rückkehr

Die meisten wissen das Datum ihrer Ankunft in Wien noch ganz genau, ihren Arbeitsplatz traten sie oft gleich am Folgetag an. "Sie haben sich willkommen gefühlt. Im Gegensatz zu heute, wo viele sagen, dass sie sich fremder fühlen als damals", so die Forscherin: "Und das, obwohl die Integrationsmaßnahmen seitens der Regierung in den 1960er und 1970er Jahren marginal waren, da ja geplant war, dass die sogenannten 'GastarbeiterInnen' nach nur wenigen Monaten wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren."

Wie werden wir morgen arbeiten?
Monika Palmberger: Ich möchte die Frage anders stellen. Denn vor dem Hintergrund meiner Forschung wäre zu fragen, wie das Nacherwerbsleben gestaltet sein wird. "Wie sieht die Zeit nach der Arbeit morgen aus?" ist eine Frage von großer gesellschaftspolitischer Relevanz. Das betrifft naturgemäß nicht nur MigrantInnen, für die das Nacherwerbsleben z.B. neue Möglichkeiten der Mobilität wie Pendeln schaffen kann. Die Veränderungen in der Arbeitswelt verlangen nach neuen Lebensentwürfen. Die zunehmende Heterogenität unserer Gesellschaft bringt auch mehr Diversität im Hinblick auf Vorstellungen über gelungenes Altern mit sich. Die Herausforderung wird sein, die unterschiedlichen Lebensentwürfe zu berücksichtigen und möglichst allen Menschen in unserer Gesellschaft ein glückliches Leben nach der Arbeit zu ermöglichen.

Das dachten sich auch viele ArbeitsmigrantInnen: dass sie nur kurze Zeit hier arbeiten werden, sei es für die Familie, die Finanzierung eines Autos oder Hauses, und danach wieder ihr Leben im Herkunftsort fortführen. "Das Interessante ist, dass sich diese Idee der Rückkehr bei einigen meiner InterviewpartnerInnen bis heute gehalten hat, bis in die Pension hinein. Aber kaum jemand wagt dann tatsächlich den Schritt, da ja ihre Kinder und die meisten sozialen Kontakte in Wien sind", erzählt Monika Palmberger: "Manche haben große Häuser in Serbien, Kroatien, Bosnien-Herzegovina oder der Türkei stehen, geplant für eine Rückkehr, die tatsächlich so nie stattfinden wird."

Spaziergänge durch die Stadt

Im Projekt war es der Wissenschafterin ein besonderes Anliegen, die Erinnerungen ihrer InterviewpartnerInnen konkret zu verorten. Dazu hat sie mit ihnen Erinnerungsspaziergänge unternommen, oft über mehrere Stunden hinweg, und dabei auch fotografiert, den Weg und die Orte kartiert. Treffpunkt und Route bestimmten die ehemaligen GastarbeiterInnen. "Das waren meist sehr persönliche Orte, von der ersten Wohnung über Kaffeehäuser, Parks, Kultur- oder Sportvereine. Der Südbahnhof war für viele auch sehr wichtig, nicht nur als Ankunftsort, sondern auch als regelmäßiger Treffpunkt in Zeiten vor Handy und Co. Der Südbahnhof wird als Ort der Solidarität erinnert."

Einer der Erinnerungsspaziergänge führte in den Grünen Prater, wo Mitglieder des Klub Jedinstvo, einer der größten jugoslawischen Kulturvereine in Wien, seinerzeit zwanzig Bäume gepflanzt hatten. Diese nun schon großen Bäume besuchte die Forscherin gemeinsam mit einem Paar aus dem ehemaligen Jugoslawien, das sich sehr gerne und oft an die gemeinsame Zeit im Klub Jedinstvo erinnert. (© Spomenka Celebic)

Bei diesen Erinnerungsspaziergängen wurde besonders deutlich, wie sich die ehemaligen ArbeitsmigrantInnen die Stadt und Räume im metaphorischen Sinn angeeignet haben – und die Stadt natürlich auch geprägt haben: Die GastarbeiterInnen haben das Nachkriegsösterreich und insbesondere Wien nicht nur mitaufgebaut, sondern auch das kulturelle Leben mitgestaltet. "Mir ist es ein Anliegen, dass der marginalisierte Beitrag von GastarbeiterInnen anerkannt und gezeigt wird. Noch ist er nicht im 'kollektiven Gedächtnis' der ÖsterreicherInnen verankert." (td)

Monika Palmberger studierte Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien. 2011 machte sie ihren PhD an der University of Oxford. Schon in ihrer Doktorarbeit beschäftigte sie sich mit Erinnerungskultur, in dem Fall in Mostar, Bosnien und Herzegowina. Ihr Projekt "Erinnerung verorten" lief von 2015-2018 im Rahmen des Hertha Firnberg-Programms des FWF. Derzeit hat sie eine Elise Richter-Stelle an der Universität Wien inne (2018-2021) und ist Research Fellow an der Universität Leuven.

Das FWF-Projekt "Placing Memories: Ageing Labour Migrants in Vienna" (Projektbeschreibung, PDF ) unter der Leitung von Mag. Dr. Monika Palmberger lief im Rahmen des Hertha-Firnberg-Programms von 2015 bis 2018. Palmberger leitet bereits das nächste FWF-Projekt (Elise-Richter-Programm) "REFUGEeICT" (Projektbeschreibung, PDF).