Empathie unter Stress

Macht uns Stress sozialer oder egoistischer? Eine offene Frage, die PsychologInnen und NeurowissenschafterInnen bis heute beschäftigt. In ihrem internationalen FWF-Projekt untersuchen Claus Lamm und Paul Forbes von der Universität Wien den Zusammenhang von Stress und Sozialverhalten.

Lange Zeit waren sich PsychologInnen und NeurowissenschafterInnen einig, dass Menschen auf akuten Stress mit "Flucht oder Kampf" reagieren. Dieser gängigen These zufolge kümmern sie sich bei Gefahr oder besonderen Belastungen erst einmal um sich selbst – Stress ist also demnach mit einer gewissen Portion Egoismus verbunden. Aber auch die Gegenthese ist bereits 20 Jahre alt. Demnach kann Stress in manchen Situationen sogar Altruismus und Beziehungspflege fördern: Menschen bemühen sich mehr um andere, wenn sie unter Druck geraten, oder holen sich bei ihren Mitmenschen Hilfe und Unterstützung.

Kämpfende Männer und altruistische Frauen?

Welche Reaktion jemand unter Stress zeigt, ist für viele NeurowissenschafterInnen aber vor allem eine Frage des Geschlechts: Während Männern eher "Flucht oder Kampf"-Reaktionen zugeschrieben werden, sollen Frauen bei Stress vor allem ihr prosoziales Verhalten verstärken. Eingehend erforscht sind diese Thesen bislang allerdings nicht: "Wir finden diese Stereotype ganz furchtbar", sagt Claus Lamm von der Fakultät für Psychologie, der in seinen Forschungsarbeiten zeigt, dass gestresste Männer sehr wohl auf Beziehung statt Vereinzelung setzen können.


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Claus Lamm: "Ich hoffe, dass wir eine gute Balance finden zwischen dem gemeinsamen Arbeiten und der Arbeit allein im stillen Kämmerlein. Einerseits ist die soziale Komponente bei der Arbeit sehr wichtig: Studien haben gezeigt, dass Teleworking und Arbeit im Home Office dazu führen können, dass Menschen den Kontakt zu anderen und letztlich auch die Motivation verlieren. Leute müssen zusammenkommen, damit ist ein Mehrwert verbunden. Andererseits ist der soziale Kontakt einer der größten Stressoren, die wir kennen. Es braucht daher ein gutes Gleichgewicht zwischen beidem. Wir untersuchen in unserem Projekt, inwiefern sich durch eine soziale Bewertungssituation ausgelöster Stress auf die Zusammenarbeit und die gegenseitige Unterstützung auswirkt."
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Länderübergreifend gegen Stereotype

In seiner gemeinsamen Studie mit Paul Forbes am Institut für Psychologische Grundlagenforschung und Forschungsmethoden der Universität Wien steht daher das Individuum im Mittelpunkt – abseits aller Vorannahmen. "Wir möchten herausfinden, welche dieser beiden Strategien Menschen umsetzen: 'Fight or Flight' oder 'Tend and Befriend', wie wir sie in der Neuropsychologie nennen", betont Paul Forbes. "Dabei testen wir, welche Faktoren dafür verantwortlich sind, dass Menschen unterschiedlich auf Stress reagieren. Schließlich kommt es ja auch auf die konkrete Stresssituation an", ergänzt Claus Lamm.

Die beiden Psychologen und Neurowissenschafter leisten Grundlagenforschung und untersuchen im Detail, wie sich Stress auf das soziale Miteinander auswirkt. In ihrem länderübergreifenden FWF-Projekt "Effekte von akutem Stress auf Sozialverhalten" kooperieren die beiden Psychologen und Neurowissenschafter eng mit Neuroökonomen von der Universität Zürich, um dem Stress gleichsam von einer emotions- als auch von einer kognitionspsychologischen Seite wissenschaftlich zu Leibe zu rücken.

"Stress schadet uns dann", so Paul Forbes, "wenn die Stressregulation nicht funktioniert. Es ist nicht per se problematisch, gestresst zu sein bzw. mit einer Cortisolausschüttung zu reagieren. Schlecht ist es, wenn eine Person durch alles und jedes gestresst wird oder das Stressniveau nicht mehr absenken kann, so dass es dauerhaft wird. Wenn etwa der Cortisolspiegel auch in der Nacht hoch bleibt, ist das ein Indikator dafür, dass die Stressregulation nicht optimal funktioniert." (© Bernd Kasper/pixelio.de)

Keine Angst vorm Stress

Dabei verstehen die beiden Wissenschafter Stress im neurobiologischen Sinne – und damit nicht per se als etwas Schlechtes. "Stress hat eine eher negative Konnotation. Aber eigentlich ist er eine körperliche Anpassungsleistung, die es uns ermöglicht, ganz besondere Herausforderungen zu bewältigen", klärt Paul Forbes auf. Das beginnt schon mit dem Aufstehen in der Früh: Kurz vor dem Aufwachen ist der Cortisolspiegel im Blut am höchsten. "Morgens aus dem Bett zu kommen, das Wiederaktivieren des Körpers, ist eine physiologische Herausforderung. Das Stresshormon Cortisol, das von der Nebennierenrinde ausgeschüttet wird, ermöglicht es uns täglich, diese Aufgabe zu meistern", ergänzt Claus Lamm.

Ob wir also nur aufwachen, einen Marathon laufen oder in Gefahr geraten: Wir müssen uns auf unseren Körper verlassen, der die notwendige Energie mobilisiert. Und so vielfältig die Herausforderungen, so unterschiedlich sind auch die körperlichen Antworten. "Cortisol stellt dem Körper längerfristig Energie bereit. Aber bei einer akuten Bedrohung, etwa wenn ein Tiger in den Raum läuft, ist die Körperreaktion zunächst eine andere: Herzschlag und Blutdruck steigen sofort an, wir schwitzen, die Hormone Adrenalin und Noradrenalin kommen zum Einsatz – und so können wir im Moment agieren. Beide Systeme des Körpers arbeiten eng zusammen", erklärt Paul Forbes.

Wie verhalten sich Menschen unter Stress? Claus Lamm (li.) und Paul Forbes (re.) beobachten, wie sich Testpersonen in sozialen Interaktionen verhalten und untersuchen mit der Methode der funktionellen Magnetresonanztomographie, welche Hirnareale dabei aktiviert werden. Auf Grundlage dessen erstellen sie kognitionspsychologische Modelle, um allgemeinere Aussagen über den Einfluss von Stress auf das Sozialverhalten zu treffen. (© Universität Wien)

Wann macht uns Stress sozialer?

Bisherige Studien weisen prosoziales Stressverhalten dem weniger unmittelbaren Cortisolsystem zu. Paul Forbes und Claus Lamm gehen hingegen davon aus, dass manche Menschen auch in akuten Bedrohungssituationen beziehungsorientierter statt egoistischer werden. Grundlage für ihre Einschätzung sind neuropsychologische Tests, die sie mit Freiwilligen durchführen: Teilen die Testpersonen mit anderen eher, wenn sie gestresst sind? In welchen Situationen helfen sie anderen, in welchen lehnen sie Bitten um Unterstützung ab?

Dass es auf die Situation ankommt, ob und wie jemand hilft, erklärt sich von selbst: Wer unter Druck steht, schnell eine Aufgabe fertigzustellen, freut sich wenig über eine Ablenkung. Aber da Menschen verschieden sind, verspricht eine systematische Erforschung ihres Stressverhaltens neue und mitunter überraschende Ergebnisse. (jr)

Im Projekt "Effekte von akutem Stress auf Sozialverhalten" kooperieren Univ.-Prof. Mag. Dr. Claus Lamm (Projektleitung Wien) und Paul Forbes, B.A. MSc PhD vom Institut für Psychologische Grundlagenforschung und Forschungsmethoden an der Universität Wien mit Prof. Dr. Christian Ruff (Projektleitung Zürich) und Dr. Gökhan Aydogan von der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich. Das Projekt läuft von September 2018 bis September 2021 und wird als Joint Project durch den FWF und den Schweizerischen Nationalfonds gefördert.