Solidaritätsstudie zur Corona-Pandemie

"Die Menschen kümmern sich wieder mehr um sich"

13. Jänner 2022 von Theresa Dirtl
Eine großangelegte Interview-Studie untersucht die Solidarität in Pandemiezeiten in zehn europäischen und zwölf lateinamerikanischen Ländern. Die Studienleiterinnen der Universität Wien geben im Interview Einblicke in die ersten Ergebnisse.

Rudolphina: Frau Prainsack, bereits im März 2020 startete das Projekt SolPan, in dem Solidarität, Einstellungen und Wertvorstellungen der Menschen während der Corona-Pandemie untersucht werden. Können Sie kurz die Hintergründe und bisher beobachteten Themen erläutern?

Barbara Prainsack: Es ist das erste Mal, dass wir in unserem hypermobilen und digitalen Zeitalter eine Pandemie erleben. Daher war es uns wichtig, eine qualitative Studie zu Solidarität in der Pandemie durchzuführen, d.h. unsere Befragten kreuzen keine Antworten auf Fragebögen an, sondern wir führen anhand eines Leitfadens längere Interviews – und können auch nachfragen, warum und wie Dinge getan oder nicht getan werden. Dadurch erfahren wir, was die Menschen bewegt. So haben wir z.B. herausgefunden, dass sich viele Menschen ein anderes Konsumverhalten wünschen. Wobei das zuerst gar nicht unsere konkrete Frage war, sondern erst in den Interviews aufgekommen ist. In unserem Schwesterprojekt, dem Corona Panel-Projekt, haben wir hingegen eine repräsentative Stichprobe der österreichischen Wohnbevölkerung nach Konsumpräferenzen gefragt und gesehen, dass es tatsächlich ein Trend ist, der durch alle Einkommensgruppen geht.

Wanda Spahl: Wir sehen, wie sich Einstellungen wandeln bzw. auch das Verständnis von Solidarität. Und das ist das Schöne an unserer Forschung, da es in der europäischen Studie drei verschiedene Zeitpunkte gibt, an denen wir mit Personen gesprochen haben: So konnten wir in unserer ersten Erhebungswelle im April 2020 in Österreich sehr viele solidarische Praktiken auf einer zivilgesellschaftlichen Ebene beobachten, wie z.B. Personen, die für ältere Nachbar*innen einkaufen gingen. Bereits ein halbes Jahr später, also im Oktober 2020, haben diese Praktiken stark abgenommen. Viele sagten dann "jetzt ist alles wieder ganz normal".

Rudolphina: Frau Radhuber, Sie leiten das Lateinamerika-Projekt SolPan+. Konnten Sie hier ähnliche Thematiken beobachten?

Isabella Radhuber: Unsere Ergebnisse sind teils ganz anders als in Europa. Das hat mit der höheren Krisenfestigkeit und der Erfahrung mit Epidemien lateinamerikanischer Länder zu tun. Generell ist die soziale Realität in Lateinamerika auch eine ganz andere. Millionen von Menschen arbeiten dort informell, d.h. wenn sie das staatliche Sicherheitsnetz nicht hält, fallen sie sehr tief. In vielen Bereichen ist es relativ deutlich geworden, dass sich die Menschen in Krisensituationen nicht auf den Staat verlassen können. Gemeinschaftliche Solidarität hat einen sehr hohen Stellenwert in der Gesellschaft Lateinamerikas, nicht erst seit der Pandemie. So haben sich Menschen – unabhängig vom Staat – organisiert, um Lebensmittel zu beschaffen oder es wurden auch Check-Points für Hygienemaßnahmen z.B. an den Zugängen zu indigenen Gemeinschaften errichtet. Es gibt also viele Situationen, in denen der Staat nicht präsent ist und sich die Leute daher selber organisieren.

Rudolphina: Welche Einstellungen der Menschen haben sich im Laufe der Pandemie gewandelt?

Barbara Prainsack: Viele fühlen sich ständig gebeten, solidarisch zu sein, aber die Privilegierten, die Eliten halten eigentlich ihren Teil für ein gerechteres Miteinander nicht ein. Es ist nicht so, dass – überspitzt gesagt – die Armen jetzt mehr für sich haben wollen, es ist Solidarität mit jenen, denen es schlechter geht. So ist z.B. auch die Unterstützung für das bedingungslose Grundeinkommen gestiegen.

Wanda Spahl: In Österreich ist die anfangs große zivilgesellschaftliche Solidarität immer mehr abgeflaut. Es haben sich laut unseren Untersuchungen keine bleibenden solidarischen Strukturen aufgebaut. Die Menschen kümmerten sich wieder eher um sich und es wurde viel darüber gesprochen, dass die staatlichen Unterstützungen für Personengruppen wie Selbstständige zu wenig waren. Insgesamt wurde mehr auf die institutionelle, staatliche Solidarität geschaut und die wurde oftmals als nicht genug empfunden.

Isabella Radhuber: Das ist ein sehr spannendes und wichtiges Thema in Lateinamerika, wie und ob gesellschaftliche Solidarität institutionalisiert wird. Man hat ja seit Jahrhunderten indigene, aber auch politische Strukturen, die formal nicht anerkannt waren oder sind. Daher ist die Selbstorganisation in Lateinamerika nach wie vor sehr wichtig.

Gertrude Saxinger: Gerade in der dritten Erhebungswelle konnten wir eine starke Solidarität mit Kindern und Jugendlichen als vulnerable Gruppe feststellen. Es kristallisierte sich mehr und mehr heraus, dass sie ein besonders schützenswerter Teil der Gesellschaft sind, da viele von ihnen weder eine Impfung bekommen konnten noch politische Mitbestimmungsrechte haben. Hinzu kam dann noch die Stigmatisierung als Spreader*innen.

Barbara Prainsack: Was sich in Europa auch verschoben hat, ist die zunehmend schwierige Situation für die Alleinlebenden. Ältere Menschen waren am Anfang nicht so stark betroffen vom Lockdown, weil sie – im Gegensatz zu den Jungen – das Alleinleben gewöhnt waren. In den späteren Phasen der Pandemie ging es auch den Alleinlebenden immer schlechter. Eine Frau meinte in einem Interview, dass sie dahinwelke. Das ist auch eine Lektion für die Politik: Wer kümmert sich um die alleinlebenden Menschen?

Rudolphina In SolPan und SolPan+ geht es ja auch um Wertvorstellungen, das Thema unserer aktuellen Semesterfrage. Wie beantworten Sie im Hinblick auf Ihre Studie die Frage "Worauf legen wir noch Wert?".

Barbara Prainsack: Wir sehen in der SolPan-Studie, dass viele Leute auf ein Leben Wert legen, das die Menschen und den Planeten nicht kaputt macht. Auch wenn es unterschiedliche Vorstellungen gibt, wie das aussieht.

Isabella Radhuber: Zwei Punkte kommen ganz klar heraus: gemeinschaftliche Solidarität und teilweise das Thema Nachhaltigkeit. Das sind Werte, die die Menschen in unseren Interviews in Lateinamerika eingebracht haben.

Gertrude Saxinger: In Bezug auf die Österreich-Interviews würde ich Freiheit als Wert herausgreifen. Die Menschen sehen Freiheit als zentralen Wert von Demokratie. Allerdings – so die Einschätzung vieler Interviewpartner*innen – endet die individuelle Freiheit dort, wo es um Sicherheit für die Gesellschaft geht. Eine Interviewpartnerin sagte: "Ich bin richtig angefressen." Es hat sie so betroffen gemacht, dass die Maßnahmen- und Impfskeptiker*innen Freiheit als individuelle Freiheit verstehen und sie nicht in den Kontext mit Gesellschaft setzen.

Isabella Radhuber: In diesem Punkt gibt es eine ganz große Differenz zu Lateinamerika: Das Thema persönliche und kollektive Freiheit wird in Lateinamerika ganz anders diskutiert. Viele sind sich bewusst, dass bei einem mangelhaften Gesundheitssystem der 'Preis' für die Freiheit eben der ist, an Covid erkranken zu können und sich entweder medizinische Versorgung leisten zu können – oder eben nicht. So trauen sich viele schwer an Covid erkrankte Menschen nicht, in private Kliniken zu gehen, weil sie ihre Familie nicht mit Schulden hinterlassen wollen.

Gertrude Saxinger: Der Westen ist nicht das globale Blueprint-Beispiel, wie Demokratie und Freiheit miteinander in Verbindung stehen.

Rudolphina: Herzlichen Dank für das Interview!