Was hält die Gesellschaft zusammen?

Stadt oder Land, Österreich oder Polen – wo wir leben, beeinflusst den Zugang zu Ressourcen, den Bildungsweg und auch die Denkweise. Die lokalen Zugehörigkeitsgefühle, Identitäten und den Zusammenhalt zu verstehen, ist das Ziel des EU-Projekts COHSMO unter Beteiligung des Soziologen Yuri Kazepov.

Vielerorts ist zu hören, der Nationalstaat sei in der Krise. Yuri Kazepov von der Universität Wien ist nur zum Teil einverstanden: "Städte und Regionen werden wichtiger, auch die supranationale Ebene spielt eine größere Rolle, zum Beispiel in Form der EU. Der Nationalstaat hat nicht alles verloren, allerdings beeinflussen die unterschiedlichen territorialen Ebenen immer mehr den Zusammenhalt in der Gesellschaft."

Neue territoriale Gliederung ...

In dem groß angelegten EU-Projekt COHSMO unter Beteiligung von sieben Ländern – Großbritannien, Dänemark, Litauen, Polen, Italien, Griechenland und Österreich – untersuchen WissenschafterInnen aus verschiedenen Disziplinen, wie diese für einige Länder neue territoriale Gliederung den Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft beeinflusst. Welche Region ist in welchem Ausmaß von Arbeitslosigkeit betroffen, wie hoch ist die Zu- und Abwanderungsquote in einer bestimmen Gegend, Gemeinde oder in einem Land? Und wie gehen die jeweiligen Institutionen damit um?

... in Richtung "Multi-Level Governance"

"Arbeitslosigkeit zum Beispiel ist in der EU national geregelt. Jeder Nationalstaat muss gewährleisten, dass die BürgerInnen ausreichend unterstützt werden, um die Erwerbslosigkeit zu überbrücken", so Kazepov: "Wie das genau passiert und welche AkteurInnen eine Rolle spielen, entscheiden aber nicht mehr die einzelnen Nationalstaaten. In vielen Ländern gibt es eine territoriale Arbeitsteilung: Geldleistungen werden national, politische Maßnahmen hingegen oft lokal oder regional geregelt. Die EU spielt auch eine immer bedeutendere Rolle, indem sie Rahmenbedingungen schafft. Zu verstehen, wie diese Ebenen – von der EU bis zu Gemeinden über Bundesländer und Regionen – die Umverteilungsmechanismen einsetzen und welche Folgen dies auf den sozialen Zusammenhalt hat, ist das Hauptinteresse in unserem Projekt."

Empfehlungen für politische Maßnahmen

Ein Ziel des Projekts ist es auch, die Wechselwirkungen und Komplexität der Prozesse zu untersuchen. Welche Dimensionen haben einen bedeutenden Einfluss auf den Zusammenhalt der Gesellschaft? Welche Rolle spielt die Territorialität der Politik und der Institutionen? Den ForscherInnen geht es darum, Zugehörigkeitsgefühle sowie den Einfluss, den die Beziehung zwischen Institutionen und Territorialität haben kann, besser zu verstehen.

Lassen sich daraus Empfehlungen für die Politik entnehmen? "Sicher ist, dass die derzeit stattfindende Umorientierung – weniger Gewicht auf den Nationalstaat und mehr auf die Regionen – noch zu enthüllen ist", sagt der Soziologe: "Unser Ziel ist u.a. zu zeigen, welche Konsequenzen die Beziehungen zwischen den AkteurInnen und Ebenen hervorbringen."

Europäische Vielfalt

"Wir haben die Länder bewusst ausgesucht, um die unterschiedlichen 'Opportunity Structures' in Europa vergleichen zu können. So spielt etwa in Südeuropa die Familie immer noch eine größere Rolle im Zusammenhalt der Gesellschaft", sagt Kazepov: "Litauen und Polen sind wegen des Paradigmenwechsels von einer kommunistischen zu einer postkommunistischen Staatsstruktur spannend. Die neoliberale Ausrichtung vieler Reformen in diesen Ländern hat dazu beigetragen, dass die Ungleichheit rapide gestiegen ist".

Interessant für die WissenschafterInnen ist dabei besonders, welchen Stellenwert Institutionen wie der Staat, die Gewerkschaften, NGOs oder die Privatindustrie einnehmen. "Früher war der Staat mehr in der Verantwortung, heute sind es viele", so Kazepov: "Wir untersuchen in unserem Projekt, wie sich diese Vielfalt auf Gerechtigkeit auswirkt und wie unterschiedliche institutionelle Architekturen zum Zusammenhalt beitragen können."

Yuri Kazepov und Michael Friesenecker beantworten die aktuelle Semesterfrage "Was ist uns Demokratie wert?"
Es ist eine schwierige Frage! Wenn wir uns von einer prozeduralen Perspektive von Demokratie distanzieren, kann man viel rechtfertigen: Die Hauptsache, es ist die Mehrheit, die entscheidet. Für uns im Projekt jedoch – und es ist uns bewusst, dass dies eine normative Annahme ist – ist Demokratie untrennbar mit Gerechtigkeit verbunden. Gerechtigkeit im Sinne, dass öffentliche Institutionen durch Umverteilungsmaßnahmen die räumlichen und sozialen Grundlagen für eine verantwortliche Lebensgestaltung der BürgerInnen unabhängig von Wohnort, sozialer und ethnischer Herkunft schaffen. Insbesondere als Forschungsteam stellen wir uns die Frage, wie eine räumlich und sozial gerechte Organisation öffentlicher Dienstleistungen wie etwa Bildung, Kinderbetreuung, Wohnen unter veränderten Rahmenbedingungen in Zukunft aussehen kann, um gleichzeitig Gerechtigkeit und Chancengleicheit erreichen zu können.

In einem ersten Schritt haben die WissenschafterInnen für alle sieben Länder soziostrukturelle Daten gesammelt. Nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch auf subnationaler Ebene, z.B. Arbeitslosigkeit, soziale Ausgaben, demografische Trends, Bevölkerungswachstum oder Wirtschaftsentwicklung. Die regionalen Unterschiede und Problemlagen dieser Länder sind teilweise ähnlich, allerdings sind die sozialen und räumlichen Umverteilungsmechanismen anders geregelt. COHSMO möchte nun aufzeigen und verstehen, wie die unterschiedlichen Länder die Mechanismen abstimmen, um den grundsätzlichen gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten.

Fragmentierung, Angst und soziale Schließung

Kazepov sieht im derzeitigen Trend der gesellschaftlichen Fragmentierung und in der Geschwindigkeit der Veränderungen eine Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts: Viele haben Angst vor "dem Anderen"; und diese verursacht eine soziale Schließung und Ausgrenzungsprozesse, die auch die Legitimität von demokratischen Staaten hinterfragen. Der Staat wird oft als weit entfernt empfunden. "Je weiter weg die EntscheidungsträgerInnen sind, desto problematischer gestaltet es sich – siehe EU", so Kazepov.

Ist Partizipation eine gute Möglichkeit, dieser Art der Verunsicherung und Entfernung entgegenzuwirken? "Partizipation heißt nicht nur BürgerInnen zu fragen: Was wollt ihr? Was braucht ihr? Es bedeutet auch, dass sie an Transformationsprozessen selbst aktiv teilnehmen müssen", ist Kazepov überzeugt. (td)

Das EU-Projekt "COHSMO – Inequality, Urbanization and Territorial Cohesion: Developing the European Social Model of economic growth and democratic capacity" läuft im Rahmen von "Horizon 2020" von Mai 2017 bis April 2021. Insgesamt nehmen sieben Universitäten aus Großbritannien, Dänemark, Litauen, Polen, Italien, Griechenland und Österreich teil. Österreich ist mit Yuri Kazepov, Professor am Institut für Soziologie der Universität Wien, vertreten.