Wen(n) der Arbeitsmarkt behindert

Berufliche Teilhabe ist Menschenrecht – aber für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung noch längst nicht Realität. Bestätigt wird diese Aussage durch die Ergebnisse einer kürzlich abgeschlossenen Studie des Instituts für Bildungswissenschaft der Universität Wien.

Das Team um Gottfried Biewer und Helga Fasching vom Institut für Bildungswissenschaft liefert erstmals flächendeckende Daten zum Thema "Berufliche Teilhabe von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung" für Österreich – und beeindruckt mit einem Forschungsdesign, in dem Menschen mit Lernschwierigkeiten auch aktiv als ForscherInnen tätig waren.

"Teilhabe ist für mich wichtig", so Monika Rauchberger, eine junge Forscherin mit Lernschwierigkeiten. Im jüngst abgeschlossenen Forschungsprojekt war sie eine von zwölf TeilnehmerInnen der Referenzgruppe und damit Mitglied im Forschungsteam.

Gelebte Vielfalt in der Forschung

"Die Mitglieder der Referenzgruppe haben persönliche Erfahrungen am Arbeitsmarkt und auch mit dem Ausschluss aus verschiedenen Arbeitssektoren mitgebracht", sagt Projektleiter Gottfried Biewer. Über einen Zeitraum von drei Jahren gab es immer wieder mehrtägige Treffen, an denen sich diese Gruppe mit den Interviewdaten beschäftigte – während die nichtbehinderten ForscherInnen mit den Interpretationen von Menschen konfrontiert wurden, die selber eine intellektuelle Beeinträchtigung aufweisen. "Das ist weltweit das erste Projekt, das einen partizipatorischen Ansatz in diesem Umfang verwirklicht hat", so Biewer.


Einige Mitglieder der Referenzgruppe – von oben li. nach unten re.: Franz Hoffmann, Monika Rauchberger, Wolfgang Orehounig, Daniela Pittl, Simon Prucker und Renate Rakuschan – waren in den Forschungsprozess involviert. Durch ihre persönlichen Erfahrungen mit erschwerten Zugängen, geringer Bezahlung und ähnlichen Barrieren am Arbeitsmarkt bereicherten sie die Sichtweise der professionellen ForscherInnen um die Sichtweise der Gruppe der Betroffenen.



Mehrere vorausgegangene Projekte aus den anglo-amerikanischen Ländern lieferten nur unzureichende Informationen zur konkreten Arbeit in und mit der Referenzgruppe. "Um den Wert dieser Strategie partizipatorischer Forschung für die aktuelle Studie erst einschätzbar zu machen, wurde die Referenzgruppe während des gesamten Projekts von DiplomandInnen begleitet, die den Forschungsprozess dokumentiert haben", so Biewer.

Barrieren am Weg ins Berufsleben

"Wie wird Partizipation erlebt?" Ausgehend von dieser Fragestellung lagen die Ziele der Studie einerseits darin, den Übergang von der Schule ins Berufsleben zu erfassen, andererseits das nachschulische (Er-)Leben der Zielgruppe Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung am Arbeitsmarkt zu dokumentieren.

Bislang lagen in Österreich keine validen Daten zu dem Themenfeld vor, daher galt es im Rahmen der Studie, erstmals bundesweit in breitem Umfang Strukturdaten zu erheben. So kontaktierten die ForscherInnen über eine Totalerhebung einen kompletter Jahrgang von ca. 3.000 SchulabsolventInnen, die nach dem Lehrplan der Allgemeinen Sonderschule und der Schule für Schwerstbehinderte in Sonderschulen und in der schulischen Integration unterrichtet wurden. "Weiters haben wir in allen Bundesländern die arbeitsmarktpolitischen Unterstützungsmaßnahmen und die Struktur des Arbeitsmarktes untersucht, der im Wesentlichen ein Ersatzarbeitsmarkt aus Arbeits- und Beschäftigungstherapie ist", so Biewer.

"Parkplatz" Ersatzarbeitsmarkt

Die Ergebnisse sind gesellschaftspolitisch brisant: "Wir sehen deutlich, dass derzeit eingesetzte berufliche Integrationsmechanismen für diese Zielgruppe nicht greifen. Nach der Sonderschule führt der Berufsweg von Menschen mit Lernschwierigkeiten wieder in den geschützten Bereich", erklärt Helga Fasching. Und der Ersatzarbeitsmarkt boomt: In den letzten acht bis neun Jahren ist er um rund ein Drittel gewachsen.

Fasching kritisiert weiter, dass nachschulische Bildung für die Zielgruppe "nicht stattfindet. Es gibt quasi keine Angebote. Der Anspruch auf Bildung und Qualifikation im Sinne des lebenslangen Lernens ist tatsächlich aufgehoben." So wird Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung das Recht auf Teilhabe am Bildungssektor verwehrt – was die Problematik der Besonderung und Segregation, also des Ausschlusses aus bestimmten gesellschaftlichen Bereichen, verstärkt.

Besonders problematisch gestaltet sich die Situation für junge Frauen. Während sie im schulischen Bereich erfolgreicher sind als ihre Mitschüler, dreht sich die Lage im nachschulischen Bereich um. Ihre Berufsbiografien gestalten sich steiniger, die Integration in den Arbeitsmarkt gelingt seltener und das Lohnniveau liegt tiefer.


Dieser Artikel erschien im Forschungsnewsletter Mai 2013.
Lesen Sie auch:
> Vater: Der bislang unerforschte Elternteil
> Die richtige Terminologie ist gefragt
> Erfolgreiche NachwuchswissenschafterInnen
> Neue Professuren im Mai



Bildungswissenschaft als Wegweiser


"Das Ziel muss lauten: weg vom Ersatzarbeitsmarkt und hin zu regulären sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen", fordert Gottfried Biewer. Dafür müsse das Angebot der Arbeitsassistenz auf- und ausgebaut werden und die bereitstehenden Mittel in die Akquirierung und Unterstützung regulärer Arbeitsverhältnisse gesteckt werden, statt wie bisher die Arbeits- und Beschäftigungstherapie-Werkstätten weiter auszubauen. Weiters müsse ein breiteres Spektrum an Möglichkeiten der nachschulischen Bildung geschaffen werden, um den Bildungsanspruch der Zielgruppe gewährleisten zu können.

Die starke Resonanz auf die Publikation der ersten Ergebnisse 2011 zeigt "ein gesteigertes Bewusstsein und eine deutlich höhere Aufmerksamkeit der Gesellschaft für die Thematik", so die Bildungswissenschafterin Helga Fasching. Am derzeit noch weiten Weg zur vollständigen Umsetzung der UN-Konvention für Menschen mit Behinderung erscheint die Studie also als entscheidender Wegweiser. (sb)

Das Projekt "Berufliche Teilhabe von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung" wurde vom FWF durch eine Förderung von ca. 265.000 Euro ermöglicht und ist bereits während seiner Laufzeit auf enormes mediales, politisches und gesellschaftliches Interesse gestoßen. Neben den ProjektleiterInnen Gottfried Biewer und Helga Fasching waren zwei DissertantInnen (Oliver Koenig und Natalia Postek), mehr als 20 DiplomandInnen und eine Referenzgruppe, die sich aus Menschen mit Lernschwierigkeiten zusammensetzte, am Forschungsprozess beteiligt.