Zwischen Theorie und Spekulation

Die Physik ist als eine Disziplin bekannt, die stark am klassischen Erkenntnisprozess orientiert ist. Dieses Bild ist jedoch längst nicht mehr zutreffend. Vor allem in der Grundlagenphysik wurden in den letzten Jahren zahlreiche Theorien populär, die nicht empirisch überprüfbar sind. Zunehmend verschwimmt die Grenze zwischen dem, was als Spekulation, und dem, was als bestätigte Theorie betrachtet wird. Diesem Wandel geht Richard Dawid vom Institut für Philosophie im FWF-Projekt "Theorienbewertung in Stringtheorie und kosmischer Inflation" auf den Grund.

Konzeptionellen Fragen an der Schnittstelle zwischen Physik und Philosophie wurde bisher in der Wissenschaftsforschung wenig Interesse entgegengebracht. Eine Ausnahme bildet Richard Dawid vom Institut für Philosophie. Er beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit Fragen wie: Worauf beruht das Vertrauen in empirisch ungeprüfte Gedankenexperimente? Wo liegt die Grenze zwischen Spekulation und bestätigter Theorie?

Dass diese bedeutsamen wissenschaftstheoretischen Fragen sowohl in der Physik als auch in der Philosophie weitgehend unbearbeitet waren, hat sein Interesse nur noch mehr beflügelt: "Meine Arbeit soll dazu beitragen, eine philosophische Basis für diese Debatte zu bilden."

Theoretische Bewertung von Theorien?


Dawids aktuelle Forschung basiert auf den Ergebnissen seines vorangegangenen FWF-Projekts "Veränderungen des Wissenschaftsparadigmas in Stringtheorie", das im Sommer 2010 abgeschlossen wurde. Auch im Zentrum des neuen Vorhabens steht die Stringtheorie – eine besonders einflussreiche Theorie, die weder empirisch bestätigt noch theoretisch vollständig ist. "Man kennt gewisse Zusammenhänge, aber bei weitem nicht alle", beschreibt der Wissenschafter den Entwicklungsstatus der Stringtheorie. Da diese aber als einzige Theorie imstande ist, Elementarteilchenkräfte und Gravitation zu vereinheitlichen, ist sie von großer Relevanz für die Grundlagenphysik. Das Maß an Vertrauen, das in sie gesetzt wird, ist erstaunlich hoch.

Welche Methoden sich nun dafür eignen, Ansätze wie die Stringtheorie zu bewerten, ist eine der Fragen, die der Philosoph in seinem Vorläuferprojekt beantworten konnte. Eine Möglichkeit ist etwa die "No Alternatives"-Strategie, wie Dawid sie nennt: "Wenn es offensichtlich nur eine Theorie gibt, die die vorhandenen Daten erklären kann, dann wird an der schon was dran sein", erklärt er und relativiert sogleich: "Es kann jedoch nie gewiss sein, ob das Ausbleiben alternativer Theorien nicht auf die Grenzen intellektueller Kapazität zurückzuführen ist."

Blick über den Tellerrand

Diesem Dilemma könne man entrinnen, indem man die Aufmerksamkeit auf ähnliche Theorien im selben Forschungsfeld richtet, beschreibt der Forscher die zweite mögliche Herangehensweise: "Wie häufig wurden vergleichbare Theorien bei den empirischen Tests tatsächlich bestätigt? Wenn das häufig der Fall ist, liegt der Schluss nahe, dass es da nicht so schlecht um die menschliche Analysefähigkeit bestellt sein kann."

Liefert die Theorie aber vielleicht auch Prognosen und Erklärungen, nach denen ursprünglich gar nicht gefragt wurde? Was auf den ersten Blick als belanglose Frage erscheint, ist für Dawid eine dritte Möglichkeit der Bewertung: "Kann ein theoretisches Modell auf Daten angewandt werden, die den ForscherInnen gar nicht zur Verfügung standen, so ist das eine Bestätigung."

Die philosophische Aufgabe besteht nun darin, zu klären, inwieweit die drei beschriebenen Strategien der Theorienbewertung aussagekräftig sein können und wie sich das Verständnis des Wissenschaftsprozesses verändert, wenn man sie wirklich ernst nimmt.

Radikalisierung der Fragestellung

Bis eine empirische Überprüfung der Stringtheorie gelingt, können nun also theoriebasierte Bewertungsmaßstäbe Abhilfe schaffen. Wie steht es jedoch um Theorien, die niemals anhand von Experimenten in der Praxis überprüft werden können? In diesem Fall müssen die theoretischen Überlegungen in einem viel radikaleren Sinne ernst genommen werden, als wenn sie nur zur Überbrückung der Phase dienen, in der noch keine empirischen Daten vorhanden sind.

Dieser Herausforderung widmet sich Dawid in seinem aktuellen FWF-Projekt. Er erweitert seinen Blickwinkel um das Feld der "kosmischen Inflation", das die Ausdehnung des Universums unmittelbar nach dem Urknall behandelt. Von besonderem Interesse sind für ihn sogenannte Multiversen-Szenarien, in denen eine Vielzahl an Universen angenommen wird.

Hier befindet sich die Forschung in einer Zwickmühle: Sofern in diesen Universen Lebewesen existieren, könnten die physikalischen Eigenschaften der Umgebung durch diese gemessen werden. Für uns in unserem Universum ist dies aber prinzipiell unmöglich. "Soll ich die Existenz solcher in gewissem Sinne beobachtbaren Universen nun ernst nehmen, oder ist das nur ein Hirngespinst?", formuliert der Philosoph eine elementare Frage, die sich wiederum auf Basis einer Analyse theoretischer Strategien der Theorienbewertung diskutieren lässt. (sh)

Das FWF-Projekt "Theorienbewertung in Stringtheorie und kosmischer Inflation" unter der Leitung von Mag. Dr. Richard Dawid vom Institut für Philosophie läuft von August 2010 bis August 2013.