Yuri Kazepov: Der soziologische Blick fürs Detail
| 04. Dezember 2015Ein Italiener mit deutschem Pass und bulgarischen Wurzeln. Der ständige Vergleich der Kulturen, mit denen Yuri Kazepov aufwuchs, hat seinen Zugang zur Wissenschaft geprägt. Heute vergleicht er u.a. die westlichen Sozialsysteme. Seit März mit Fokus auf Wien – als Professor am Institut für Soziologie.
Yuri Kazepov zeigt ein Foto auf seinem Smartphone. Darauf zu sehen? Ein öffentliches "Bike Repair Kit" am Londoner Bahnhof Paddington. "Solch kleine Dinge erzählen sehr viel über eine Stadt, die gesellschaftsrelevanten Prozesse und wer Zugang zur Stadt hat bzw. wer ausgeschlossen bleibt", erklärt der Forscher und meint: "In der Soziologie steckt eben sowohl der Teufel als auch der Zauber im Detail."
Deshalb sind es auch Details, die sein Leben prägten: "Als in Mailand geborener Deutscher war ich der einzige meiner Klasse, der zum Frühstück Müsli aß und mit Birkenstocks aus dem Haus ging", schmunzelt er und fügt erklärend hinzu: "Dieses Gefühl der Differenz war sehr wichtig für mich". In einer multikulturellen Familie aufgewachsen, habe er von Geburt an Vergleiche gezogen. "Wenn man mit mehreren Sprachen groß wird, erkennt man sehr früh, dass ein und dasselbe Objekt verschiedene Bezeichnungen haben kann. Dieses Wissen ist auch in der Forschung zentral, um Unterschiede und Parallelen zu verstehen", so Yuri Albert Kyrill Kazepov, Experte für Vergleichende Sozialpolitik und seit März 2015 Professor für Internationale Stadtforschung an der Universität Wien.
Von "British Urban Details" (Bike Repair Kit) bis hin zu "Japanese Urban Details" (Wie man eine Warteschlange am Bahnhof organisieren soll): Der Stadtforscher Yuri Kazepov hat ein Auge für Details und hält diese – wo auch immer er gerade ist – mit seinem Smartphone fest. (Fotos: Yuri Kazepov)
Vom Traumberuf Lehrer zum Wissenschafter
Dabei wollte er ursprünglich gar nicht in die Wissenschaft. "Mein Berufswunsch war Lehrer. Doch als 'Ausländer' in Italien war das nicht so einfach", meint Kazepov rückblickend. "Nach dem Studienabschluss an der Universität Mailand bat mich meine Professorin, einige Interviews für ihre Forschungsstudie zu führen. Der kleine Nebenverdienst kam mir sehr gelegen und schon bald wurde ich in immer neue Projekte mit einbezogen, bis ich irgendwann meine eigene Studie zum Thema Armut zu verwalten hatte", erinnert sich der Soziologe an die Anfänge seiner wissenschaftlichen Laufbahn. Die Themen Armut, vergleichende Sozialpolitik und Stadtforschung zählen seitdem zu seinen wichtigsten Forschungsthemen.
Weg von der idealen in die soziale Stadt
Die ihn schlussendlich nach Wien führten: "Als eine sehr soziale Stadt ist Wien für mich als Forschungsobjekt besonders attraktiv. Hier kann ich gut beobachten, wie sich politische Maßnahmen lokal entfalten und sich auf die Lebensqualität der Menschen auswirken", betont der neue Professor, der nach Studium und Promotion in Mailand und Pavia – sowie einigen Gastprofessuren – 15 Jahre lang an der Universität von Urbino geforscht und gelehrt hat.
Wer das als auf einem Hügel mitten im Apennin thronende und durch antike Stadtmauern geschützte Urbino kennt, weiß: Betritt man die als "ideal" konzipierte Stadt, fühlt man sich in eine andere Epoche versetzt. "Die Historie, die periphere Lage, aber auch die Tatsache, dass dort 16.000 StudentInnen – und nur 8.000 EinwohnerInnen – leben, machen Urbino sehr speziell", erzählt Kazepov. "Hier war es daher nicht ganz einfach, zum Thema Stadt im Allgemeinen zu forschen", lacht er. Wahrscheinlich gelang es Kazepov deshalb, insgesamt elf EU-Projekte an Land zu ziehen – vier davon hat er mit an die Universität Wien genommen.
Von 1998 bis 2014 forschte und lehrte Yuri Kazepov in der mittelalterlichen Universitätsstadt Urbino: "Obwohl sie peripher gelegen ist, hatte ich unwahrscheinlich viel Freiheit in meiner Forschung." Trotzdem zog es den geborenen Mailänder zurück in die Großstadt. "Wien ist für mich als Stadtsoziologe sehr spannend und die Vielfalt und Internationalität der Uni – anders als in Italien sind hier die Hälfte meiner Studierenden aus dem Ausland – erlauben es mir, größer zu denken." (Foto: Gareth Williams/Flickr/CC BY 2.0)
Armut und Umverteilung
Eins davon behandelt das Thema Armut. "Mein Fokus liegt dabei auf Innovationen im Wohlfahrtsystem", so der Professor. "In diesem Punkt ist Italien sehr vorbildlich. Das Problem ist nur: Innovation bleibt hier auf lokaler Ebene 'hängen' und es gelingt nicht, sie höher zu hieven. Dieses 'Upscaling' funktioniert in südeuropäischen Ländern leider nicht. Dazu fehlen viele Vorraussetzungen, wie z.B. Staatlichkeit, Konsens usw.", so der Experte.
Daher zählt Italien tausende unterschiedliche (lokale) Sozialhilfe-Systeme, die nach ganz unterschiedlichen Kriterien – wenn überhaupt – Hilfe leisten. "Im Unterschied zu Kontinentaleuropa, muss in Italien die Familie selbst die soziale Verantwortung gegen Armut tragen. Jedoch ist sie keine Umverteilungsinstitution. Das hat zur Folge, dass die Ungleichheit groß ist, was sich auch räumlich auswirkt: Arme Regionen werden immer ärmer", betont Kazepov. Die Länder, die es in den 50er und 60er Jahren versäumt haben, soziale Rechte zu definieren, haben es heute viel schwerer, Kompromisse zu finden. "Die Individualisierung und der Neoliberalismus haben in den letzten 20 Jahren dazu beigetragen, dass die Solidarität und Bereitschaft zum Teilen sinken", argumentiert der Soziologe.
Die Stadt als "Entry Point"
Warum Menschen oft über Generationen hinweg in der Armutsfalle gefangen sind und wie sich einzelne Lebensläufe in die makrostrukturellen Gegebenheiten einfügen – das sind die großen Fragen, denen Kazepov nun auch in Wien nachgeht. "Meine Perspektive liegt auf der Meso-Ebene: Ich untersuche die Schnittstellen und institutionellen Gegebenheiten, an denen sich Mikro- und Makro-Ebene treffen – sprich die 'opportunity structures', die wir auf lokaler Ebene haben, um Armut zu bekämpfen", erklärt der Forscher seinen Zugang. Dafür braucht er die Stadt als "Entry Point": "Denn was in der Stadt passiert, wird stets von mehreren Ebenen – von lokalen über nationale und globale – definiert". Diesem Thema wird sich der Stadtsoziologe auch im Rahmen seiner Antrittsvorlesung widmen.
Und bis dahin bleibt noch etwas Zeit, Wien mit dem soziologischen Blick zu erkunden. Ob zu Fuß oder mit dem Rad – nach den steilen Straßen Urbinos schwingt sich der passionierte Radfahrer und zweifache Familienvater hier besonders gern auf den Drahtesel. Das ein oder andere Detail wird sich in Wien sicher finden lassen. (ps)
Univ.-Prof. Yuri Albert Kyrill Kazepov, PhD, seit März 2015 Professor Internationale Stadtforschung am Institut für Soziologie der Universität Wien, hält am Donnerstag, 10. Dezember 2015 um 17 Uhr im Kleinen Festsaal seine Antrittsvorlesung zum Thema "From Citizenship to Cit(y)zenship. Why cities are getting more important".
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antrittsvorlesung_kazepov.pdf
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