Ist die Demokratie tatsächlich im Umbruch?

Alte Parteistrukturen werden durch Bewegungen ersetzt und klassische Konfliktthemen verschwinden. Ist das System Demokratie, wie wir es kennen, Vergangenheit? Darüber schreibt Politikwissenschafterin Sylvia Kritzinger im Gastbeitrag zur Semesterfrage auf "derStandard.at".

Wer kennt diese Sätze nicht: "Demokratie im Umbruch!" oder "Die traditionellen Parteien haben ausgedient". Die politischen Entwicklungen des letzten Jahrzehnts in Europa – wie auch der Wahlkampf 2017 in Österreich – haben diese Phrasen befeuert: traditionelle Parteien wie die Sozialisten in Frankreich versanken bei der letzten Präsidentschaftswahl in die Bedeutungslosigkeit, die ehemaligen sozialdemokratischen Arbeiterparteien in Deutschland und den Niederlanden verloren massiv an Wählerzuspruch. Rechtspopulistische Parteien hingegen konnten gewaltige Stimmenanteile dazu gewinnen.

Veränderung dominiert den politischen Diskurs, ohne dass substantielle Inhalte damit verbunden wären. Das Wort Partei ruft unangenehme Assoziationen hervor und wird gerne mit dem Wort Bewegung ersetzt. Diese Veränderungen in der Parteilandschaft sind Ausdruck der Veränderungen in der Wählerschaft: Identifikationen mit Parteien nehmen ab, WählerInnen werden in ihren Wahlentscheidungen mobiler und die Zahl der Unentschlossenen nimmt zu – auch Gründe wieso Prognosen für Wahlausgänge immer schwieriger werden.

UserInnen haben die Gelegenheit, auf "derStandard.at" Fragen an die Wissenschafterin zu stellen. Wie ist es um die Demokratie bestellt und wohin wird sie sich entwickeln? Sylvia Kritzinger wird die Beiträge in einem Frage-Antwort-Artikel auf "derStandard.at" am 24. Oktober aufgreifen und diskutieren.

Warum ist das so?

Einfach ausgedrückt: Veränderungen wie Säkularisierung, das Entstehen einer breiten Mittelschicht oder aber die Bildungsexplosion haben zu einem Aufbrechen von gesellschaftlichen Strukturen geführt, die das Wählerklientel der traditionellen Parteien ausgemacht haben. In den 1960er und 1970er Jahren waren beispielsweise Merkmale wie Arbeiter, Wien, Taufscheinkatholik und Lehrabschluss eindeutige Hinweise auf SPÖ-WählerInnen. Diese alten Weisheiten sind mittlerweile verblasst. So ist es beispielsweise schwierig vorherzusagen, welcher Partei eine Angestellte mit Matura und einem mittleren Einkommen zuzurechnen ist.

Soziale Gruppen brechen auf und orientieren sich neu im Parteigefüge mit Auswirkungen auf die Repräsentationsmechanismen: Welche Parteien repräsentieren nun die Themen, die für die WählerInnen wichtig sind? Wenn bestehende Parteien diese Themen nicht aufgreifen oder diesen nicht die notwendige Wichtigkeit zugestehen, dann entsteht Potential für eine neue Partei oder eine neue Bewegung. Welche Themen von den Parteien aufgegriffen werden und welche Positionen diese dabei vertreten, unterscheidet sich über die Jahre hinweg deutlich.

So haben die alten Konfliktlinien, die den politischen Diskurs in der Nachkriegszeit geprägt haben, an Bedeutung verloren und sind nicht mehr eindeutig einer Partei zuordenbar. Themen wie die Ausgestaltung des Wohlfahrtstaates, oder inwiefern der Staat in wirtschaftliche Abläufe eingreifen darf, oder welche Aspekte der Arbeitsmarktpolitik forciert werden sollen, werden heute weit weniger kontrovers diskutiert als in der Vergangenheit. Das Konfliktpotential wirtschaftlicher und sozialer Themen ist gesunken – das ist überraschend, wenn man die anstehenden Veränderungen in der Arbeitswelt bedenkt, die gravierende Auswirkungen auf bestehende wirtschaftliche und soziale Strukturen haben werden.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Die Semesterfrage im Wintersemester 2017/18 lautet "Was ist uns Demokratie wert?". Zur Semesterfrage

Neue Konfliktthemen

Wenn "alte" Themen an Bedeutung verlieren, eröffnen sich Räume für "neue" Themen mit neuem Konfliktpotential. In den europäischen Demokratien sind es Zu- und Einwanderung, Integration und Europäische Integration, die in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen haben, kontrovers diskutiert werden und den öffentlichen Diskurs dominieren. Selbst ökonomische und soziale Fragen werden heute unter Verweis auf ZuwandererInnen und AsylwerberInnen diskutiert, wie die unterschiedlichen Positionen der Parteien bezüglich Zugang zum Wohlfahrtstaat, zu Arbeits- und Ausbildungsplätzen und dergleichen verdeutlichen.

Politische Player – und hier vor allem die sogenannten rechtspopulistischen Parteien – haben diese Themen für sich entdeckt und klare, teils extreme Positionen entwickelt. Sie sind somit in Konflikt mit den traditionellen Parteien getreten, die diesen Themen bis dato wenig Aufmerksamkeit schenkten und dieser neuen Themendynamik unbeholfen gegenüber standen. Die Grundlage auf der der politische Wettbewerb ausgetragen wird und WählerInnen politisch mobilisiert werden hat sich somit enorm verändert – wie auch die Nationalratswahl 2017 in Österreich gezeigt hat, in der die Themen Zuwanderung und Integration dominiert haben. Gespeist wird dies auch mit der weit verbreiteten Unzufriedenheit der WählerInnen mit den sogenannten politischen Eliten.

Hürden für die Demokratie

Ist die Demokratie somit also tatsächlich im Umbruch? Eine eindeutige Antwort gibt es nicht. So wird dem Anspruch der Repräsentation durch die Entstehung neuer Parteien durchaus Genüge getan: die Themen auf der neuen Konfliktlinie erfahren nicht nur den Zuspruch von den WählerInnen, sie werden von gewählten Parteien im Parlament auch vertreten. Repräsentation ist zumindest auf dieser Ebene also gegeben – einer der wichtigsten Pfeiler von repräsentativer Demokratie. Wie jedoch die Repräsentation der alten Konfliktlinien funktioniert, bleibt abzuwarten und könnte noch zu Wählerenttäuschungen führen.

Aus den Themenveränderungen resultieren aber auch mögliche strukturelle Konstellationen, die die WählerInnen auf Dauer gesehen als negativ wahrnehmen könnten. Durch das Aufbrechen der Parteilandschaft, welches in einer größeren Anzahl von Parteien mündet, und die Dominanz von neuen, umstrittenen Themen im politischen Diskurs, werden Regierungsbildungen nach der Wahl immer mehr erschwert. Politische Arbeit, die sich um effektive Lösungen für die BürgerInnen kümmert, ist somit weniger sichtbar.

In den Niederlanden ist erst sieben Monate nach der Wahl eine neue Regierung installiert worden, und in Deutschland werden die anstehenden schwierigen Regierungsverhandlungen auch eine Abkehr vom "coalition-buidling-as-usual" bedeuten. Sollten diese institutionellen Blockaden zu einer Unzufriedenheit der Wähler mit der Regierungsform Demokratie führen, dann wohnt langfristig der Phrase "Demokratie im Umbruch" durchaus eine gefährliche Prognose inne.

Der Wunsch nach politischer Effizienz kann die Aushebelung von checks and balances und die Ausgestaltung einer Person mit einer immensen Machtfülle erleichtern. Ungarn und Polen machen es bereits vor und es scheint, als ob weitere politische Akteure in Europa diesem Modell einiges abgewinnen könnten.

Sylvia Kritzinger ist Professorin für Methoden in den Sozialwissenschaften am Institut für Staatswissenschaft. Ihre Schwerpunkte liegen in den Bereichen Wahlforschung, politisches Verhalten, Europäisierung der Parteipolitik sowie demokratische Repräsentation.