"Sozialer Ausgleich ist die Grundlage einer Demokratie"

Birgit Sauer

Für Politologin Birgit Sauer ist die Demokratie in der Krise und dennoch die beste Möglichkeit, soziale Konflikte zu beseitigen. Im Interview zur Semesterfrage spricht sie mit uni:view über Feminismus in der Demokratie und warum Österreich im Bereich Gleichstellung ein schlechtes Bild abgibt.

uni:view: Welche Rolle spielt Demokratie in Ihrer Forschung zu Geschlechterverhältnissen?
Birgit Sauer: Ich beschäftige mich u.a. mit der Frage, ob Demokratien geschlechtergerecht sind: Werden Männer und Frauen innerhalb demokratischer Strukturen zu gleichen Anteilen befähigt, selbstbestimmt zu leben? Historisch gesehen waren Demokratien nicht geschlechtergerecht. Der Demos, das Volk, war sehr lange männlich gedacht. Selbstherrschaft war eher Androkratie, also Männerherrschaft.

uni:view: Wie hat sich die Geschlechtergerechtigkeit in Österreich entwickelt?
Sauer: Seit den 1970er Jahren sind Frauen in Parlamenten und Regierungen besser quantitativ repräsentiert. Das hat damit zu tun, dass Frauen mehr in die höhere Bildung integriert wurden und sich auch Parteien für Frauen geöffnet haben – sicher auch, weil sie das Wählerinnenpotenzial erkannt haben. Seit den 80er Jahren führten manche Parteien freiwillige Quotenregelungen ein. Dadurch ist die Frauenquote im Parlament langsam gestiegen. Ein höherer Frauenanteil heißt zwar noch nicht, dass frauenfreundliche Politik gemacht wird, aber es wurden Institutionen geschaffen, die die Geschlechtergerechtigkeit verbessert haben, etwa das Frauenministerium oder die Gleichbehandlungskommission. Bis in die 90er Jahre ist eine positive Entwicklung feststellbar.


uni:view: Hat sich dieser Trend zur geschlechtergerechten Demokratie in den 90er Jahren nicht fortgesetzt?

Sauer: Seit den 90er Jahren geht der Trend in Richtung neoliberaler Umbau des Staates. Dieser Umbau hat demokratische Institutionen nicht unberührt gelassen. Manche sprechen von einer Krise der Demokratie bzw. einer Krise der Repräsentation, die sich im Unmut gegenüber politischen Entscheidungsorganen, in sinkenden Parteimitgliedschaften und einer zurückgehenden Wahlbeteiligung zeigt. Das sinkende Repräsentationspotenzial der Parteien hatte Protestwählen zur Folge und drückt sich inzwischen in Wahlgewinnen deutlich rechter und rechtspopulistischer Parteien aus.

uni:view: Sehen Sie eine Lösung dieser Krise?

Sauer:
Kurzfristig werden meine Lösungsvorschläge, nämlich mehr soziale Gleichheit als Bedingung demokratischer Gleichheit, nicht greifen. Ich kann zunächst nur hoffen, dass die zukünftige Regierung soziale Gleichheit nicht auf Basis einer exkludierenden Solidarität umsetzen wird – das heißt, dass Menschen ausgeschlossen werden, die ohnehin schon an den Rand gedrängt sind. In den 2000er Jahren waren NGOs und zivilgesellschaftliche Gruppen in Österreich sehr aktiv, um gegen nationalistische Ausschlüsse zu protestieren; vielleicht passiert das wieder. Solche Aktivitäten braucht Demokratie unbedingt.

uniview: Passend dazu die Uni Wien Semesterfrage: Was ist Ihnen Demokratie wert?
Sauer: Eine liberale Demokratie ist nicht die optimale Form des Aushandelns von Konflikten, weil sie auch herrschaftsförmig ist und viele Menschen exkludiert. Nicht-Staatsangehörige dürfen beispielsweise nicht wählen. Solche Ausschlüsse mindern die Demokratiequalität. Aber demokratische Institutionen und Organisationen sind dennoch in der Lage, Konflikte immer wieder zu thematisieren und Kompromisse zu erzielen. Darin sehe ich den Wert der Demokratie: Dass sie auch denen, die oftmals nicht gehört werden, immer wieder auch Stimmen gibt und Gehör verschaffen kann.

uni:view: Bei der Erstellung der Wahllisten wenden einige Parteien das sogenannte "Reißverschlussprinzip" an – die Liste wird abwechselnd mit einer Frau und einem Mann besetzt. Trotzdem sind nach der Wahl weniger Frauen auf politischen Positionen. Was heißt das für die Repräsentation?
Sauer: Dass die freiwillige Parteienquote im Nationalrat nicht realisiert wird, ist tatsächlich ein Problem. In Ländern wie Frankreich, wo statt freiwilliger Übereinkünfte ein Gesetz existiert, hat sich diesbezüglich wesentlich mehr verbessert als in Österreich. Die SPÖ hat ihre selbstgesetzte 40 Prozent-Quote erstmals bei dieser Wahl erfüllt, sogar überschritten. Bei der ÖVP haben durch das Vorzugsstimmenprinzip und durch die Art und Weise der Listenerstellung auf Landes- und Bundesebene mehr Männer als Frauen Parlamentssitze errungen. Das Reißverschlusssystem wurde dadurch ausgehebelt. Die FPÖ weigert sich, eine Frauenquote einzuführen. Wenn es eine gesetzliche Regelung gäbe, wäre das kein Thema mehr.

uni:view: Sie sind für eine gesetzliche Frauenquote?
Sauer: Ja. Es ist wichtig, dass man mitbekommt, dass Frauen die Hälfte des Volkes ausmachen und daher auch zu gleichen Teilen politisch repräsentiert sein müssen.

uni:view: Momentan gibt es im österreichischen Parlament keine Parteichefin. Wie wirkt sich das auf die öffentliche Wahrnehmung von Frauen in der Politik aus?
Sauer: Das ist eine katastrophale Situation. Auch im Wahlkampf waren mehrheitlich Männer präsent. Das wirkt sich auf die WählerInnenschaft aus, die dadurch den Politikerberuf noch immer als Männerberuf sehen. Auch klassische Frauenthemen wurden im Wahlkampf kaum angesprochen. Im Vergleich etwa mit Deutschland gibt Österreich hier ein sehr schlechtes Bild ab und es zeigt sich, dass das Land immer noch stark androzentrische Züge aufweist.

uni:view: Welche Gleichstellungsthemen sollten momentan auf der politischen Tagesordnung stehen?
Sauer: Nach wie vor ist der Gender Pay Gap aktuell. Hier muss sich etwas ändern. Auch die Frage der Kinderbetreuung ist, außer in Wien, besonders in den ländlichen Regionen immer noch unbefriedigend. Dort wurden potemkinsche Dörfer (ein Dorf, das nach außen schön, aber innen verfallen ist, Anm. d. Red.) aufgebaut, um die Barcelona- und Lissabon-Ziele der EU in Bezug auf Kinderbetreuung zu erreichen: Die Betreuungszahlen mögen stimmen, aber die Ausstattung und die Öffnungszeiten der Einrichtungen sind schlecht. Ein weiterer Punkt ist die Elternkarenz. Väter werden zu wenig motiviert in Elternkarenz zu gehen. Wir haben noch immer eine geschlechterspezifische Arbeitsteilung der schlechtesten Art.

uni:view: Debattiert wird in letzter Zeit über ein Gesetz, das vermehrt Frauen betrifft. Wie sehen sie das Verhüllungsverbot aus einer Gleichstellungsperspektive?
Sauer: Ich halte das gleichstellungspolitisch für völlig rückschrittlich. In Bezug auf Migrantinnen braucht man andere gleichstellungspolitische Maßnahmen als dieses Verbot. Frauen, die ein Kopftuch tragen, sind seit der Verbotsdebatte um Ganzkörperverhüllung zunehmend verbaler, aber teilweise auch tätlicher Gewalt auf der Straße ausgesetzt. Auch Migrantinnen, nicht nur Frauen in Aufsichtsräten, brauchen ein aktives gleichstellungspolitisches Programm. Aber hier geht der Diskurs momentan in Richtung größerer Diskriminierung.

Die Universität Wien hat eine lebendige geschlechterforscherische Community mit Professuren an neun Fakultäten: Neben dem Forschungsverbund "Geschlecht und Handlungsmacht" und dem Masterstudium "Gender Studies" veranstaltet die Universität zahlreiche Gender-Lehrveranstaltungen in sämtlichen Studienrichtungen. Ein Themenschwerpunkt ist die Untersuchung von Prozessen der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit bzw. der Unsichtbarmachung von Geschlecht und Geschlechterungleichheit z.B. in den Medien, der Politik oder in der Literatur.

uni:view: Können zivilgesellschaftliche Aktionen wie das Frauenvolksbegehren Frauenpolitik sichtbarer machen? 
Sauer: Im Prinzip ist es eine gute Idee, frauenpolitische Themen durch die Initiative Volksbegehren auf die Agenda zu setzen. Wenn gute Medienarbeit gemacht wird, kann so eine öffentliche Diskussion über Gleichstellungspolitik gelingen, wie beim ersten Frauenvolksbegehren. Allerdings gab es 1997 Frauenpolitikerinnen, die das unterstützt haben. Ich gehe nicht davon aus, dass die neue Regierung ein Frauenvolksbegehren unterstützen wird, deshalb bin ich eher skeptisch, wieviel erreicht werden kann.

uni:view: PolitikerInnen werden immer öfter gefragt, ob sie sich als Feministinnen bezeichnen. Was ist denn ein demokratischer Feminismus?
Sauer: Feminismus ist eine soziale Bewegung. Jemand, der oder die sich als FeministIn bezeichnet, hat als politisches Programm die Verbesserung der sozialen, politischen, kulturellen oder ökonomischen Situation von Frauen. Gleichzeitig waren feministische Bewegungen auch immer gesellschaftskritisch. Eine wichtige Rolle spielt die Intersektionalität für feministische Bewegungen: D.h. Frauen sind nicht alle gleich. Verbesserungen für eine Gruppe von Frauen, können Verschlechterungen für andere bringen oder auch auf Kosten von anderen gehen. Ein demokratischer Feminismus muss diese Unterschiede in den Blick nehmen und Strategien entwickeln.

uni:view: Gibt es in Österreich eine feministische politische Kultur?
Sauer: Seit den 1970er Jahren gibt es eine lebendige frauenbewegte Szene. Ich würde sagen, dass es bei den Grünen und auch in der Sozialdemokratischen Partei FeministInnen gibt. Auch viele junge, die gerade deshalb in diese beiden Parteien eingetreten sind. In den anderen Parteien bin ich skeptisch. Gerade angesichts der rechten Hegemonie, die in Zukunft nicht sehr feministisch sein wird, kommt es darauf an, feministische Kräfte zu bündeln. Dann kann dieses zarte Pflänzchen Feminismus auch wieder größer und stärker werden.

uni:view: Was würden Sie an der österreichischen Demokratie verändern?
Sauer: Ich würde eine gesetzliche Quote einführen, damit die quantitative Repräsentation von Frauen garantiert ist. Ich würde auch zivilgesellschaftlichen Organisationen mehr Mitspracherecht geben. Ganz fundamental ist für mich aber die soziale Gleichheit – nicht nur jene zwischen den Geschlechtern. Sozialer Ausgleich ist die Grundlage für eine funktionierende Demokratie. In den letzten 20 Jahren ist hier sehr viel falsch gelaufen. Es müssten mehr Ressourcen in sozialstaatliche Maßnahmen, klarerweise auch in Kinderbetreuung, fließen.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (pp)

Birgit Sauer ist Professorin am Institut für Politikwissenschaft, Vize-Leiterin des Doktoratsstudienprogramms der Fakultät für Sozialwissenschaften und Vize-Sprecherin des Forschungsverbund Gender and Agency. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Governance und Geschlecht, Politik der Geschlechterverhältnisse, Staats- und Institutionentheorien sowie Politik und Emotionen.