"Arbeit schützt nicht mehr vor Armut"

Wer arbeitet, ist heute nicht mehr automatisch vor Armut geschützt. Gerade Frauen sind häufig von Altersarmut betroffen, sagt Laura Wiesböck. Im Interview zur Semesterfrage spricht die Soziologin der Uni Wien u.a. über Erwerbsarmut, Selbstausbeutung, Abwertungsprozesse und demokratische Mündigkeit.

uni:view: Frau Wiesböck, in Ihrem Buch "In besserer Gesellschaft. Der selbstgerechte Blick auf die Anderen" sprechen Sie davon, dass sich seit den 1980er Jahren sowohl das Image von Arbeit als auch unsere Arbeit selbst gewandelt haben. Können Sie das näher erläutern?
Laura Wiesböck:
Unsere Arbeitswelt ist einem Transformationsprozess unterlegen – im öffentlichen Diskurs "Flexibilisierung der Arbeitswelt" genannt –, der etwa Mitte der 1980er Jahre begonnen hat. Unterschiedliche Beschäftigungsformen jenseits des unbefristeten Vollzeitmodells traten stärker in den Vordergrund – etwa geringfügige oder befristete Beschäftigungen, Leih- oder Projektarbeit.

Zusätzlich gibt es das Phänomen der Erwerbsarmut: Eine Person kann trotz Erwerbstätigkeit arm oder von Armut bedroht sein. Während man in den 1970er Jahren im sogenannten "Alleinernährer-Modell" noch als Mittelschichtsfamilie mit drei Kindern gut leben konnte, sind die meisten Angestellten heutzutage nicht mehr in der Lage, ein bescheidenes Vermögen aufzubauen. Ebenso schützt Arbeit nicht mehr vor Armutsrisiken.

Gleichzeitig ist das Mantra "Do what you love" medial sehr präsent. Hier stellt sich zum einen die Frage nach der Umsetzbarkeit – das können sich vor allem Personen leisten, die keine Angst haben müssen, aus dem Sicherheitsnetz zu fallen. Zum anderen erzeugt es auch Druck und Leid. Die Idee, dass der Beruf zur Selbstverwirklichung führt, beherbergt auch die Tendenz zur Selbstausbeutung. Das können wir vor allem in der urbanen Kreativbranche stark beobachten.

uni:view: Diese Selbstausbeutung erlebt man auch häufig in der Wissenschaft – ein Berufsfeld, in dem gerade für den wissenschaftlichen Nachwuchs oft prekäre Arbeitsbedingungen herrschen …
Wiesböck:
Ich finde die starke Prekarisierung in der Wissenschaft, die besonders JungwissenschafterInnen betrifft, sehr nachträglich für die Universitäten. Die geringe Planbarkeit kann einerseits zu einer starken mentalen Belastung führen. Andererseits geht es auch auf Kosten der inhaltlichen Arbeit, wenn man die Hälfte der Zeit damit verbringen muss, die nächste Stelle zu beschaffen. Ich persönlich hatte über 25 Verträge an der Universität Wien.

uni:view: Wie gingen Sie damit um?
Wiesböck
: Ich habe immer die Vor- und Nachteile und deren Gewichtung in gewissen Lebensphasen abgewogen. In meinen 20ern waren mir Internationalität und Mobilität sehr wichtig, Finanzielles und Sicherheiten dagegen weniger, weil mein Lebensstandard sehr studentisch ausgerichtet war. Ich habe in dieser Zeit sehr viel gelernt, durfte in internationalen Projekten arbeiten.
Jetzt, mit 32 Jahren, möchte ich schon mittelfristig planen können, ein halbwegs sicheres Arbeitsverhältnis wäre für mich daher anstrebenswert. Das ist in meinem beruflichen Stadium kaum möglich. Aktuell befinde ich mich in einer befristeten Stelle und muss nächstes Jahr wegen der Kettenvertragsregelung von der Uni Wien weg.

uni:view: Geistige und körperliche Arbeit wird in unserer Gesellschaft unterschiedlich bewertet. In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie das zu Abwertungs- und Selbstaufwertungsprozessen führt?
Wiesböck:
Die Trennung zwischen Kopf- und Handarbeit und die wechselseitigen Abwertungsprozesse existieren schon sehr lange. Das kommt daher, weil wir eine Arbeitsteilung forciert haben, die den Arbeitsprozess unterteilt hat: Es ist nicht mehr so, dass eine Person von der Planung bis zur Fertigstellung alles ausführt. Durch die Institutionalisierung des Systems entstanden Abhängigkeiten und ein Machtgefälle. Manche/r "HacklerIn" denkt, Menschen, die im Büro arbeiten, sitzen den ganzen Tag nur faul im Sessel herum. Umgekehrt lässt sich ähnliches beobachten: Körperliche Arbeit wird häufig als stupide, repetitive Tätigkeit abgetan.

Gleichzeitig können wir beobachten, dass viele Menschen heutzutage wieder das Bedürfnis nach haptischen Erfahrungen haben – nach dem Motto "Do it yourself" – und handwerkliche Produkte schätzen, Wert auf Qualität legen. Von dem Boom profitieren allerdings überwiegend junge, urbane Labels, die sich als "innovative Manufakturen" zu vermarkten wissen, etwa Bäckereien, die mit dem eigens gebauten Holzbackofen Lavendelkrustenbrot backen und um sieben Euro verkaufen. Demgegenüber steht die Realität der am Land ansässigen BäckerInnen, die in Konkurrenz mit der Massenproduktion stehen, deren Unternehmenszukunft nur noch selten in der eigenen Familie liegt und für die es immer schwieriger wird, fähige Auszubildende zu finden.

uni:view: Wo sehen Sie konkrete Problematiken in diesen Abwertungsprozessen?
Wiesböck:
Dass wir uns von anderen Bevölkerungsgruppen abgrenzen, ist nicht ungewöhnlich. Es ist für uns Menschen als soziale Wesen wichtig, eine Gruppenidentität zu haben. Diese passiert häufig über Abgrenzung. Problematisch wird es dann, wenn andere Personengruppen als minderwertig wahrgenommen werden. Gerade in der Unterscheidung zwischen Kopf- und Handarbeit stecken versteckte Klassenkämpfe und die Abwertung dessen, was den Lebensstil der anderen Gruppe ausmacht – als wechselseitiger Prozess. Arbeit ist hier nur ein Beispiel von vielen, auch in anderen Bereichen findet es statt, etwa bei Essen oder Musik: Schlager finden die einen lächerlich, die anderen Jazz.


Am Montag, 27. Mai, findet um 18 Uhr im Großen Festsaal der Uni Wien die Podiumsdiskussion zur aktuellen Semesterfrage statt. Mit dabei: Laura Wiesböck, die gemeinsam mit Johannes Kopf (Vorstand AMS), Annika Schönauer (Arbeitsforscherin FORBA), Ali Mahlodji (Whatchado-Gründer), Eva Zehetner (Personalchefin A1 Telekom Austria Group) und Mark Coeckelbergh (Technikphilosoph, Universität Wien) unter der Moderation von Martin Kotynek (Der Standard) die Frage "Wie werden wir morgen arbeiten?" diskutieren wird. (© Universität Wien)

uni:view: Welche Rolle spielt Geschlecht in unserer heutigen Arbeitswelt?
Wiesböck:
Eine sehr große. Wir wissen für Österreich, dass Frauen häufiger Teilzeit arbeiten als Männer, weil das Modell "Mann arbeitet Vollzeit, die Frau verdient dazu und macht den Haushalt" hier sehr weit verbreitet ist. Häufig sind Frauen in schlecht bezahlten Dienstleistungsberufen beschäftigt. Das bedeutet langfristig für Frauen eine stärkere Armutsgefährdung und eine geringere Pension.

Kinderbetreuung, die Vereinbarung von Familie und Beruf, wird heutzutage immer noch als Frauenthema behandelt. Die ökonomische Ungleichheit zwischen Männern und Frauen ist nicht naturgegeben, die Teilung zwischen unbezahlter und bezahlter Arbeit kein Zufall. Das ist ein institutionelles Machtgefälle, das die Verteilung von Vermögen, Macht und politischer Mitbestimmung beeinflusst. Es gäbe politische Möglichkeiten, diese Ungleichheit zu minimieren – aktuell sehen wir aber gegenteilige Tendenzen.

uni:view: Neben Geschlecht spielt auch Herkunft eine wichtige Rolle auf dem Arbeitsmarkt. Rechtspopulistische und rechte Parteien hetzen damit, dass MigrantInnen Arbeitsplätze wegnehmen, gleichzeitig werden sie aber auch als "SozialschmarotzerInnen" bezeichnet, wenn sie arbeitslos sind …
Wiesböck:
… Und wenn sie sich selbstständig machen, haben sie angeblich einen "expansiven Übernahmewillen", wie es vor längerer Zeit einmal hieß, als der Vorwurf laut wurde, Kebabstände würden Würstlbuden verdrängen. Das ist eine klassische Strategie der Rechten. RechtspopulistInnen definieren nie, was es hieße, integriert zu sein, um die Bandbreite an negativen Klassifikationen möglichst breit zu halten. Insbesondere im Niedriglohnbereich werden Arbeitskräfte anhand der nationalen Linie gegeneinander ausgespielt.

Wenn es um Lohndruck durch migrantische Arbeitskräfte geht, werden immer wieder zwei Problemherde thematisiert: Europäisierung und MigrantInnen oder Geflüchtete selbst. Kaum jemand spricht über UnternehmerInnen, obwohl sie überwiegend die Entscheidungsträger in dieser Sache sind: MigrantInnen und Geflüchtete können per se selbst kein Sozialdumping betreiben, wie es ihnen häufig vorgeworfen wird. Das können nur die UnternehmerInnen, die sich dafür entscheiden, bestimmten ArbeitnehmerInnen weniger zu zahlen.

uni:view: Sie schreiben Kommentare und Artikel für diverse Zeitungen, sind aktuell Teil des FALTER Think-Tanks. Wieso ist es Ihnen als Wissenschafterin wichtig, öffentliche Debatten mitzugestalten?
Wiesböck:
Als Wissenschafterin werde ich von Steuergeldern bezahlt und sehe es als meine Aufgabe an, meine Tätigkeiten und Erkenntnisse der Bevölkerung rückzukoppeln. Gerade in gesellschaftspolitisch krisenhaften Zeiten, in denen demokratische Grundprinzipien in Frage gestellt werden, ist es für mich selbstverständlich, einen Standpunkt einzunehmen, der teilweise über die reine Forschung hinausgeht, aber immer auf wissenschaftlichen Studien basiert. Ich gebe zum Teil ideologische Stellungnahmen ab, aber meine Ideologie basiert auf empirischen Erkenntnissen und ist transparent: Mein Forschungsschwerpunkt ist die soziale Ungleichheit, mein normativer Rahmen ist, dass sich starke soziale Ungleichheit schädlich auf das gesamtgesellschaftliche Zusammenleben auswirkt.


uni:view: Aus soziologischer Sicht: Welche Maßnahmen müssen heute gesetzt werden, damit die Arbeitswelt für uns alle in Zukunft besser ausschaut?

Wiesböck: Auf jeden Fall muss Arbeit wieder einen armutsvermeidenden Charakter haben. Bezahlte und unbezahlte Arbeit muss gleich verteilt werden. Insgesamt müssen wir uns als Gesellschaft fragen: Welche Wertehaltungen stecken hinter der unterschiedlichen finanziellen Bewertung von Tätigkeiten? Warum verdient eine Kinderpädagogin ein Drittel des Gehalts eines SAP-Beraters?Meiner Ansicht nach müsste im schulischen Bereich eine Ausbildung zur demokratischen Mündigkeit und kritischen Selbstermächtigung forciert werden. Was ist ein Diskurs? Was ist der Zusammenhang zwischen Sprache und Macht? Wie kann man "Fake News" erkennen? Und grundsätzlich ist es zielführend, eine kritische Perspektive zu kultivieren. Kritik wird oftmals negativ assoziiert, dabei ist sie sehr wertvoll: Kritik ist die Grundlage für Entwicklung. (mw)

Laura Wiesböck ist Universitätsassistentin (Postdoc) am Institut für Soziologie der Universität Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen soziale Ungleichheit, Armut und Ausgrenzung, Migration und Transnationalisierung von Arbeit.