Bildpolitik

"Bild der Erschöpfung"

22. Juni 2020 Gastbeitrag von Karin Liebhart
Das Foto einer erschöpften Ärztin verbreitete sich viral und avancierte rasch zu einem Symbolbild der COVID-19-Krise in Italien — und darüber hinaus. Die Politologin Karin Liebhart von der Uni Wien analysiert in ihrem Gastbeitrag zur Semesterfrage die medialen Bildpolitiken rund um diese Fotografie.
"Bilder machen Themen und Ereignisse nicht nur sichtbar, sie aktivieren immer auch Vorstellungswelten und mentale Bilder", so die Politologin Karin Liebhart. © Screenshot Facebook/Francesca Mangiatordi

Rosa Mercedes, das Online Journal der Non-Profit-Organisation Harun Farocki Institut, veröffentlichte Mitte März unter dem Titel "Bild der Erschöpfung" einen kurzen Kommentar zu einem ikonischen Foto der COVID-19-Krise. In der Notaufnahme des Krankenhauses Cremona hatte die Ärztin Francesca Mangiatordi ihre Arbeitskollegin Elena Pagliarini fotografiert, als diese völlig übermüdet nach dem Ende ihres Nachtdienstes vor einem PC eingeschlafen war. Die schlafende Krankenschwester trägt noch ihre Schutzkleidung und Gesichtsmaske, die Brille liegt am Tisch. 

Symbolbild für die Auswirkungen der COVID-19-Krise

Die Fotografin teilte das Bild am 8. März, dem Internationalen Frauentag, in einer Schwarz-Weiß-Version auf Facebook. In einem Interview mit der FAZ kommentierte sie 14 Tage darauf die Entstehungsgeschichte: "Nach zehn Stunden, in denen wir von Patient zu Patient gerannt waren, hat Elena sich ein wenig auf den Schreibtisch gelegt, um einen Moment auszuruhen." Der spezifischen Qualität dieses Fotos und seiner Fotografin hat die Plattform photovoiceproject eine lesenswerte Geschichte gewidmet.

Das Foto verbreitete sich sowohl in Schwarz-Weiß wie auch in Farbe viral in sozialen Netzwerken und avancierte rasch zu einem Symbolbild für die Auswirkungen der COVID-19-Krise in Italien — und darüber hinaus. Es überzeugt durch "unmittelbare Verständlichkeit" (Rosa Mercedes), und durch seine Eignung zur generellen Illustration medizinischer Notsituationen und prekärer Zustände in Krankenhäusern und ähnlichen Einrichtungen. Damit ist eine zentrale Funktion von Bildern angesprochen: Aufgrund ihrer assoziativen Logik können sie Inhalte vermitteln, die verbal nicht so gut kommunizierbar sind. Bilder machen Themen und Ereignisse nicht nur sichtbar, sie aktivieren immer auch Vorstellungswelten und mentale Bilder, die in kollektiven wie auch individuellen Bildgedächtnissen gespeichert sind und vor deren Hintergrund ein aktuelles Bild von den Betrachter*innen interpretiert wird.

Mediale Anschlusskommunikation

Das Foto wurde auch in traditionellen Medien unzählige Male reproduziert — wohl nicht immer ganz im Sinne der Fotografin. So kombinierte das deutsche Boulevardblatt "Bild" die Aufnahme mit der reißerischen Überschrift "Italienische Ärztin richtet Appell an deutsche Kollegen. Ein Virus wie ein Tsunami – er macht nicht vor euch halt!". Platziert wurde die Text-Bild-Kombination unter einem gelb-schwarzen Balken mit den Wörtern "Corona Krise" (in Riesenlettern gesetzt), "Virus-Radar" und "Alle Infos". Die Zeitung erweckt durch die Einbettung des Fotos den Eindruck, das Bild sei vorrangig als Warnung für deutsche Ärzt*innen gedacht. Zugleich reiht sie sich mit der Metapher einer tödlichen Naturkatastrophe in eine seit der Antike bestehende Tradition der Dämonisierung von Krankheit ein, die bereits in den späten 1970er und 1980er Jahren von der Literaturwissenschafterin und Essayistin Susan Sontag rekonstruiert wurde.

Der Umgang der "Bild" mit der Fotografie zeigt eine Form medialer Anschlusskommunikation, die durch Betextung den intendierten Fokus verändert, ein Bild neu rahmt und damit eine andere Lesart nahelegt. Zwar greift die sensationsheischende Headline tatsächlich auf eine Aussage der Ärztin zurück, die im Interview davon spricht, das Virus habe "uns wie ein Tsunami getroffen", davor warnt, die COVID-19-Krise zu unterschätzen und auch den Ausdruck verwendet: "Es macht nicht vor euch halt". Und ja, auf ihrer Facebook-Seite, in Interviews mit diversen Printmedien und in TV-Dokumentationen spricht sie auch manchmal von einem unfairen Krieg gegen das Virus, in dem mit ungleichen Waffen gekämpft werde, und verwendet Metaphern aus der militärischen Sprache. Viel öfter jedoch spricht die Ärztin über Würde, Menschlichkeit, Empathie, Solidarität und Unterstützung, und auch über Stress, Überforderung und Verzweiflung des medizinischen Personals.

Ruf nach Held*innen

Auch wenn in Krisenzeiten der Ruf nach Held*innen rasch laut wird und gerade medizinisches Personal zu Held*innen des Alltags avanciert, so ist diese Fremdzuschreibung nicht unbedingt deckungsgleich mit dem Selbstbild. In einem weiteren Facebook-Post vom 16. März teilte Francesca Mangiatordi eine Aufnahme des Fotografen Paolo Miranda. Sie zeigt zwei Personen auf dem Flur eines Krankenhauses, beide vollständig in weiß-blau-türkise Schutzkleidung gehüllt, eine Person kauert am Boden, die Hände bedecken einen Teil des Gesichts, die zweite Person versucht sie zu trösten. Das Bild vermittelt Traurigkeit, Verzweiflung, aber auch Fürsorge. Darunter steht der Satz "We are not heroes, we are professionals and above all people". Aussagen wie diese schaffen es vergleichsweise selten in die Schlagzeilen.

© Parlamentsdirektion
© Parlamentsdirektion
Karin Liebhart ist Senior Lecturer am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.

Sie forscht zu visueller politischer Kommunikation, politischer Werbung und diskursiven Strategien sowie Bildpolitiken der neuen Rechten.