Buchtipp des Monats von Gertrude Saxinger

Die Kulturanthropologin Gertrude Saxinger erzählt im Interview über ihr Buch "Unterwegs", das von den Lebensrealitäten der Erdöl- und ErdgasarbeiterInnen in Russland handelt. Zudem hat sie auch einen sommerlichen Buchtipp parat.

uniview: Kürzlich ist Ihre Publikation "Unterwegs – Mobiles Leben in der Erdgas- und Erdölindustrie in Russlands Arktis" erschienen, in dem Sie den Alltag von ArbeiterInnen in der russischen Erdölindustrie dokumentieren. Wie sind Sie auf das Thema gekommen?
Gertrude Saxinger: Damals, als angehende "Russlandforscherin", stellte ich mir die Frage, ob ich tatsächlich Expertisen über dieses riesige Land abgeben kann, ohne mich näher mit Sibirien und den zirkumpolaren Weiten Russlands beschäftigt zu haben. Ich wollte einfach nur meine persönliche Wissenslücke schließen. Bei der Entwicklung meines Dissertationsthemas über urbane Veränderungen in arktischen, monoindustriellen Städten bin ich auf das Phänomen der per Flugzeug oder Bahn pendelnden Erdöl- und ErdgasarbeiterInnen gestoßen. Wissenschaftlich gab es zu dem Zeitpunkt nahezu keine diesbezüglichen Arbeiten. Dies war zu Beginn Fluch und letztlich Segen für mein damaliges FWF-Projekt, das ich unter der Leitung von Heinz Faßmann genehmigt bekam. Ich tappte mitten auf einen weißen Fleck der wissenschaftlichen Landkarte.

uniview: Sie waren vor Ort und haben den Alltag der Menschen hautnah miterlebt. Können Sie diesen kurz skizzieren?
Saxinger: Die FernpendlerInnen in Russland, wie dies auch international der Fall ist, leben einige Wochen in Camps nahe ihrer entlegenen Arbeitsplätze und sind dann wieder für einige Wochen zu Hause. Das erfordert, sich in zwei unterschiedliche soziale Systeme einzugliedern – sprich andere Normen bzw. Aufgaben zu Hause und auf Schicht.

Die Leute leben in den sehr unterschiedlich ausgestalteten Camps auf engstem Raum mit anderen Crewmitgliedern zusammenleben. In den mobilen Camps, z.B. entlang der Pipelines, gibt es zur Freizeitgestaltung nach einem zwölf-Stunden-Arbeitstag nur Basics, wie TV, ein Fitnessgerät oder einen Billardtisch. Nahe der Förderanlagen und Raffinerien sind die Camps regelrecht kleine (Container-)Siedlungen. Die "Gazprom" hat in einem ihrer größten Camps, in dem ich geforscht habe, sogar eine Kirche. Auch der Priester wird für Gottesdienste zyklisch eingeflogen. Dort gibt es ein Museum, eine riesige Bücherei, ein Veranstaltungszentrum, ein Restaurant und eine Bar, ein großes Schwimmbad und vieles mehr. Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich die Lebensbedingungen.

uniview: Sie haben auch viele Gespräche und Interviews mit den russischen WanderarbeiterInnen geführt. Welche Probleme stehen bei diesen im Vordergrund?
Saxinger: Ich habe weit über 150 semi-narrative Interviews und unzählige informelle Gespräche in den Pendlerzügen, in den Camps, in den nördlichen Städten und südlichen Heimatregionen, geführt sowie strukturiert beobachtet. Für die meisten Menschen ist natürlich die Abwesenheit von der Familie schwierig. Ebenso sind das teilweise strikte Alkoholverbot in den Camps oder die langweiligen Routinen (Aufstehen – Frühstück – 12-Stunden-Schicht – Dusche – Abendessen – Relaxen – Nachtruhe) nicht immer leicht zu ertragen. Man steht auch dauernd unter Kontrolle des Unternehmens; auch in der Freizeit. Was für mich erstaunlich war, ist die Selbstdisziplin, mit der diese Menschen an ihren Alltag herangehen. Sie haben genaue Ziele in ihrem Leben und wissen, wofür sie so hart arbeiten: für die Familie und vor allem die universitäre Ausbildung der Kinder, die in Russland immer teurer wird, aber auch für westliche Automarken, Immobilien und Fernreisen, die zu Statussymbolen geworden sind. Ich habe selten so reflektierte Menschen getroffen, die über ihr Leben und den Sinn ihres Tun nachdenken und dies auch sehr komplex ausdrücken können – also für mich eine wunderbare Forschungserfahrung.

uniview: Das Leben in Novy Urengoy, der "Russischen Erdgashauptstadt", spielt sich zwischen Erinnerungen an die Sowjetunion und staatsnahen sowie neoliberalen Wirtschaftspraktiken ab. Wie sehen Sie die Zukunft der Stadt und der russischen Erdgasindustrie generell?
Saxinger: In Städten wie Novy Urengoy ticken zwei verschiedene Uhren gleichzeitig: die sowjetische, also die Reminiszenzen an eine Zeit als die Menschen hier her kamen und "mit ihren eigenen Händen" diese heute 110.000-Einwohner-Stadt Anfang der 1980er Jahre aufbauten. Sie bekamen damals Sondervergütungen für die erschwerten Bedingungen in der Arktis. Viele dieser Sonderzahlungen und sogenannte Sozialpakte gibt es heute noch. Allerdings tickt auch die neoliberale Uhr. Dazu gehört der Rückzug von – staatsnahen – Unternehmen aus Teilbereichen ihrer früheren Aufgaben, als sie noch für städtische Infrastruktur zuständig waren und Cafés und Kindergärten unterhielten. Oft wird aber übersehen, dass in anderen Teilen Russlands, insbesondere in ländlichen Regionen, die Lebensqualität massiv schlechter ist als im rohstoffreichen Norden.

Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten LeserInnen zur Verfügung:

1x "Unterwegs – Mobiles Leben in der Erdgas- und Erdölindustrie in Russlands Arktis" von Gertrude Saxinger
1x "Meine Olympiade. Ein Amateur, vier Jahre, 80 Disziplinen" von Ilja Trojanow

uniview: Welches Buch empfehlen Sie unseren LeserInnen für den Sommer?
Saxinger: Meine Lieblingsurlaubslektüre in diesem Sommer war das neue Buch von Ilja Trojanow "Meine Olympiade. Ein Amateur, vier Jahre, 80 Disziplinen".

uniview: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Saxinger: Es geht hier um das Suchen nach den eigenen Grenzen und Möglichkeiten. Mental und auch körperlich. Er kritisiert den "Sport-Markt" und das "sport-kapitalistische" Leistungsdenken. Er sucht in seinem Experiment alle sommerolympischen Sportarten zu erlernen, nach der Lust an Bewegung, nach den Gedanken, die einem beim Spiel unterkommen, nach Erfahrungen mit neuen Menschen, die er auf seinen Lernreisen trifft. Es soll nicht um das Gewinnen, sondern um das sinnstiftende Tun im Sport gehen. Ich sah so viele Parallelen zur Wissenschaft und zum "Forschungsmarkt". Ich sah Parallelen, wenn es um die Leidenschaft geht, die wir WissenschafterInnen einfach im Tun verspüren, die aber bei vielen durch die Impact-Factor-Hetze und prekären Arbeitsbedingungen nachgerade verschüttet wird.

uniview: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Saxinger: Er lautet: "Vielleicht werde ich nie wieder im Leben ringen, aber die Tatsache, dass ich diese wie auch andere Sportarten vermissen werde, ist an sich schon eine Bereicherung und Beglückung". Ich hoffe, dass nicht allzu viele der befristet arbeitenden WissenschafterInnen auf diesen Satz zurückgreifen müssen. (td)

Dr. Gertrude Saxinger ist am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Fakultät für Sozialwissenschaften tätig. Zu ihren Forschungsinteressen zählen u.a. Natural resources, Labour studies, Labour mobility.