Buchtipp des Monats von Mira Kadric

Portrait von Mira Kadric

"Sprache macht den einzelnen Menschen, sein Denken, Handeln und seine Kultur sichtbar", sagt Mira Kadric vom Institut für Translationswissenschaft. Im Interview stellt sie ihr jüngstes Buch "Gerichts- und Behördendolmetschen" vor und erklärt die Besonderheiten dieses Fachgebiets innerhalb der Translationswissenschaften.

uni:view: Kürzlich ist Ihre Publikation "Gerichts- und Behördendolmetschen" erschienen. Was sind in diesem Fall die speziellen Herausforderungen für Dolmetscher*innen?
Mira Kadric: Dolmetscher*innen haben vor Behörden und Gerichten mehrfache Verpflichtungen: Für die an einem Verfahren beteiligten Personen geht es oft um viel – bei einem Obsorgestreit, einem Wohnungskündigungs-, einem Asyl- oder Strafverfahren. Behörden und Gerichte sind auf die Dolmetscher*innen angewiesen, um allen Beteiligten nicht nur ein effizientes, sondern auch ein faires Verfahren garantieren zu können. Fehler in der Dolmetschung können unmittelbar den Ausgang des Verfahrens beeinflussen. 

uni:view: Hat sich die Arbeitssituation von Gerichtsdolmetscher*innen über die letzten Jahre – auch im Hinblick auf anhaltende Migrationsströme – gewandelt?
Kadric: Die Qualitätsanforderungen sind gestiegen, die EU hat wichtige Regelungen zum Gerichts- und Behördendolmetschen erlassen. Der Bedarf nach bestimmten Sprachen ist einem raschen Wechsel unterworfen. 

uni:view: Wie sieht die konkrete Ausbildung im Bereich des gerichtlichen und behördlichen Dolmetschens aus?
Kadric: Dieser Dolmetschbereich wird in den translatorischen Studien, also auch am Zentrum für Translationswissenschaften der Universität Wien, mitberücksichtigt. Allerdings decken alle österreichischen Universitäten zusammen rund 20 Sprachen ab. Umso wichtiger und erfreulicher ist es, dass die Universität Wien seit vier Jahren einen postgradualen Universitätslehrgang "Akademische/r Gerichts- und Behördendolmetscher/in" anbietet. Er steht Absolvent*innen verschiedener Studienrichtungen offen, wir bieten hier eine Spezialausbildung in den Sprachen Albanisch, Arabisch, Dari/Farsi und Türkisch an und bauen dieses Angebot aus.

Chinavirus, Quarantäne, Systemerhalter … WIE WIRKT SPRACHE IN ZEITEN VON CORONA? Dazu diskutieren online am Montag, 22. Juni (18-19 Uhr) Sprachsoziologin Ruth Wodak, Kommunikationswissenschafter Jörg Matthes sowie Politikberater und Alumnus der Universität Wien Thomas Hofer. Moderiert wird die Veranstaltung von Lisa Nimmervoll, "Der Standard". Diskutieren Sie mit im Forum+ auf "derStandard.at"! Fragen zum Thema können schon vorab gepostet werden.

uni:view: Die aktuelle Semesterfrage der Universität Wien behandelt Sprache und lautet: Wie wirkt Sprache? Wie beantworten Sie die Frage aus der "Dolmetschperspektive"?
Kadric: Die Sprache bestimmt ganz wesentlich unsere Identität mit. Sie macht den einzelnen Menschen, sein Denken, Handeln und seine Kultur sichtbar und ermöglicht den Anschluss an das gesellschaftliche Leben. Kommunikationsschwierigkeiten, also auch die Unkenntnis der Amtssprache oder einer Weltsprache, bedeuten de facto Sprachlosigkeit und die Abtrennung von Bildungsmöglichkeiten und einen erschwerten Zugang zum Rechts- oder zum Gesundheitssystem. Neben den rechtlichen Aspekten ist es für Menschen auch auf der emotionalen und symbolischen Ebene wichtig, in der eigenen Mutter- bzw. Herkunftssprache kommunizieren zu können. Es ist daher eine Frage gesellschaftlichen Respekts, Sprachenvielfalt anzuerkennen. Die Vielfalt der Sprachen in Europa stellt Bürokratie und Verwaltung vor Herausforderungen. Dolmetschung verhilft hier zu Lösungen.  

Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten LeserInnen zur Verfügung:

1 x "Gerichts- und Behördendolmetschen" von Mira Kadric
1 x
"Das Gewicht der Worte" von Pascal Mercier

uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren Leser*innen?
Kadric: Zum Kontext hier passend: "Mut zum Recht" von Oliver Scheiber. Das Buch bietet einen hochgradig reflektierten Einblick in das Justizsystem und ermuntert zu einer empathischen Rechtsanwendung. Aus meinen eigenen Forschungserfahrungen und meiner früheren Tätigkeit als Gerichtsdolmetscherin kann ich diesen Ansatz nur unterstreichen.

Ich möchte aber auch einen Roman empfehlen: "Das Gewicht der Worte" von Pascal Mercier. Hier tritt ein polyglotter Protagonist auf, Verleger und Übersetzer, der eindrucksvoll über die Sprache philosophiert und die Faszination für sprachliche Nuancen vermittelt. Als Übersetzer wählt er jedes seiner Worte mit Bedacht aus, erzählt von den Grenzen des Vermittelbaren. 

uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Kadric: Der Text erhält eine besondere Bedeutung in diesem Jahr der Pandemie: Zeit zum Nachdenken, für sprachliche Nuancen, für das Leben zu haben. All das findet der Protagonist, nachdem er erfährt, dass er todkrank ist – zum Glück eine Fehldiagnose.

Zudem geht es um eine europäische Wirklichkeit: Die Hauptfigur, Simon Leyland, ist Sohn einer Deutschen und eines Engländers, seine Frau ist die Tochter eines französisch-italienischen Ehepaars. In Triest aufgewachsen, sind die Kinder des Protagonisten vor allem Italiener. Geformt von mehreren Sprachen und Kulturen.

uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Kadric: Der Roman handelt von gewonnener Zeit, von plötzlichen Wendungen und Chancen, die aus einer Fehldiagnose entstehen. Vor der Corona-Krise haben wir vieles in unserer Arbeit, in unserem Alltag nicht hinterfragt und unsere individuelle Lebensgestaltung und Freiheit für selbstverständlich gehalten. Die in den letzten Wochen und Monaten erlebten Einschränkungen sollten uns lehren, uns den Wert von vermeintlichen Selbstverständlichkeiten bewusst zu machen und mit ihnen auch sensibler umzugehen. Das inkludiert auch unseren Umgang mit Sprache(n). So wie das Recht, sind sie ein gewichtiges Machtinstrument. (td)

Mira Kadric ist Professorin am Zentrum für Translationswissenschaft der Universität Wien und dessen stv. Leiterin. Zudem leitet sie den Universitätslehrgang "Dolmetschen für Gerichte und Behörden" sowie die Zertifikatskurse "Barrierefreie Kommunikation: Schriftdolmetschen" und "Dolmetschen mit neuen Medien: CAI-Tools, Telefon- und Videodolmetschen".