Buchtipp des Monats von Sascha Klotzbücher

Sinologe Sascha Klotzbücher lesend im Arkadenhof der Uni Wien

Der Sinologe Sascha Klotzbücher fragt nach den Langzeitwirkungen von Politik und Emotion während der Kulturrevolution (1966-1976). Im Interview erläutert er die Hintergründe und hat auch einen Buchtipp für unsere Leser*innen.

uni:view: In Ihrer jüngsten Publikation beschäftigen Sie sich mit der Verbindung von Emotion und Politik während der Kulturrevolution (1966-1976) in China. Was ist Ihnen an diesem Thema wichtig, aufzuzeigen?
Sascha Klotzbücher: Über Maos Texte und Maoismus als Ideologie ist viel geschrieben worden. China hat sich nach 1976 teilweise von maoistischen Herrschaftsmethoden gelöst, aber die eingeübten Gefühls- und Deutungsmuster der Bevölkerung sind geblieben. Etwas ganz Ähnliches konnten und können wir auch in unseren Gesellschaften nach dem Nationalsozialismus oder Staatssozialismus beobachten. Mir ist wichtig herauszuarbeiten, dass Maoismus auch ein Identifikations- und Erlebnismuster begründet. Wenn wir also die Wirkung des Maoismus heute verstehen wollen, müssen wir zuerst untersuchen, wie Maoismus bei der Subjektbildung der Beherrschten erfolgreich war. Welche Möglichkeiten gab es, in einer extrem politisch aufgeladenen Umgebung tagtäglich zurechtzukommen und sich mithilfe des maoistischen Survival Kits selbst positiv wahrzunehmen und von anderen anerkannt zu werden? Genau bei dieser maoistischen Subjektivierung sind Emotionen extrem wichtig.

uni:view: Sie fragen nach den Langzeitwirkungen dieser emotionalen Manipulation. Können Sie diese kurz skizzieren?
Klotzbücher: Jedes politische System produziert Ängste und stellt gleichzeitig Mechanismen bereit, wie wir diese vermeiden. Man begegnete Terror und Willkür des Maoismus, indem man in die vom chinesischen Staat propagierten und normierten politischen Rollenbilder floh und dort die Anerkennung bekam, die man wollte. Erst in einer politisch vergebenen sozialen Rolle war man in der Lage, z. B. den immer wieder proklamierten und anscheinend allgegenwärtigen Feind zu hassen und zwischen 'uns' und ihm eine Linie zu ziehen, ihn zu dehumanisieren und als sogenanntes "konterrevolutionäres Element" schnell vernichten zu können. Wenn solche Rollen mit unserer subjektiven Identität verknüpft sind, werden wir manipulierbar, und genau darin liegt der Kern von politischer Herrschaft. Der Held oder die Heldin zeichnen sich dadurch aus, dass er für die Gemeinschaft einen Schritt weitergeht als die anderen, aber immer auch bereit ist, dafür etwas aufzugeben. Wer sich genug fürchtete und den Feind genügend hasste, für den erschien Gewalt und andere Aktionen auch gegenüber Freund*innen und Familienmitgliedern als authentisch und unabdingbar.

uni:view: Wie wird die Kulturrevolution heute in China von der Politik dargestellt?
Klotzbücher: Die Politik hat schon 1981 die Politik der Kulturrevolution und auch den damit verbundenen Personenkult von Mao Zedong verneint, auch wenn der jetzige Staatspräsident und Parteivorsitzende Xi Jinping bestimmte politische Rituale und Rhetorik wieder politikfähig gemacht hat. Mao wird kritisiert, ist aber nicht völlig negiert worden. Seine Politik ist veraltet, aber als Icon ist er von der Regierung veralltäglicht worden: Er ist auf allen Geldscheinen, die meisten Chinesinnen und Chinesen machen einmal im Leben ein Foto vor seinem Bild auf dem Platz des Himmlischen Friedens, wir können uns wie er in einen Korbstuhl setzen und uns in seinen ehemaligen Residenzen vor seinem Bett fotografieren lassen. Die Politik verneint die Kulturrevolution, aber nicht Mao als das zentrale Identifikationsobjekt, sondern stellt ihn und andere vertraute Bezugspunkte der Bevölkerung weiterhin zur Verfügung. Denn wenn die Regierung Mao und alles, mit denen die positiven Gefühle und Werte verbunden waren, negieren würde, dann würde das zu einer Identifikationskrise einer ganzen Generation führen, die ihre Jugend für einen brutalen Diktator verschwendet haben könnte.

Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten LeserInnen zur Verfügung:

1 x "Lange Schatten der Kulturrevolution" von Sascha Klotzbücher
1 x "Der dunkle Wald" von Liu Cixin

uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren Leser*innen? 
Klotzbücher: Ich empfehle das Buch "Der dunkle Wald" von Liu Cixin. Liu Cixin ist ein erfolgreicher Science-Fiction-Bestsellerautor einer bekannten Triologie, die aber durchaus auch einzeln zu lesen ist. Im zweiten Teil der Triologie, "Der dunkle Wald", geht es um die Frage, wie die Menschheit sich auf die Invasion und drohende Vernichtung in 400 Jahren durch eine aus den Tiefen des Weltalls herankommende intelligente und dem Menschen technologisch überlegene Spezies vorbereitet und ihr entgegentritt.

Der Autor stellt in dem Roman eine interessante Frage: Was sollen wir jetzt unternehmen, wenn wir wissen, dass für unsere Nachkommen in der 10. Generation alles vorbei sein wird? In Anbetracht der technologischen Übermacht aus dem All, die schon jetzt alle menschlichen Daten- und Kommunikationswege und Speicher auswerten kann und auch technologisch den Menschen haushoch überlegen ist, beruft die UNO nun vier Personen als "Wandschauer", die alleine, ohne Kontrolle und mit fast unbegrenzten Mitteln Pläne entwickeln und die Invasion abwehren sollen. 

uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Klotzbücher: Irgendwann fragt man sich, inwieweit die so übermächtigen Außerirdischen nicht eine Allegorie auf den scheinbar unbegrenzten kommunistischen Staat sind. Auch die chinesische Gesellschaft ist unter dem Bewusstsein aufgewachsen, dass es keine dauerhaft verbrieften Rechte gibt. Wenn die Kommunistische Partei es wollte und heute auch will, können staatliche Organe dank der ihnen zur Verfügung stehenden Informationstechnologie und Machtkonzentration alles wissen und auch mit noch so merkwürdigen Begründungen einem alles wegnehmen.

uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Klotzbücher: Die Auflösung des bestehenden Staatengefüges, die Neuordnung der Gesellschaft, die Transformation von internationalen Institutionen und neue Formen von post- und transplanetarischer Governance, so würde ich es mal nennen, werden hier fiktional aus einer chinesischen Perspektive diskutiert.

Während wir die Welt fast ungehalten tagtäglich durch vom Staat gebilligte oder subventionierte Verhaltensweisen weiter zerstören oder breitwillig andere Lebewesen quälen und töten, beschreibt das Buch die Möglichkeiten, in Zeiten der Krise in ganz anderen Kategorien und Zeitzusammenhängen zu denken. Das ist jetzt dringend notwendig, denn das postplanetarische menschliche Überleben ist wirklich nur Science Fiction von Liu Cixin. (td)

Sascha Klotzbücher ist am Institut für Ostasienwissenschaften, Bereich Sinologie, der Universität Wien tätig. Im Wintersemester 2019/20 hatte er die Professur "Gesellschaft und Wirtschaft Chinas" an der Universität Göttingen inne.