Buchtipp des Monats von Wolfgang Schmale

Für Europakenner und Historiker Wolfgang Schmale ist der Konsens über die fundamentalen Ziele und Werte Europas zerbrochen. Warum er dennoch eine Zukunft für Europa sieht, erklärt Schmale im Interview.

uni:view: Kürzlich ist Ihre Publikation "Was wird aus der Europäischen Union?" erschienen. Die titelgebende Frage suggeriert bereits Probleme. Wie sehr sehen sie das Gesamtprojekt EU – im Spiegel von Brexit, Finanzkrise, etc. – gefährdet?
Wolfgang Schmale:
Das Fortbestehen der EU steht auf dem Spiel, da das Bewusstsein, dass Europa eine Schicksals- und Solidargemeinschaft darstellt, die auf bestimmten Werten beruht, immer mehr Regierungen abhandenkommt. Politische Ziele, die vermeintlich dem nationalen Interesse dienen, werden priorisiert, ungeachtet der Kosten für die Anderen und die Gemeinschaft: Dazu zählen der Brexit, die Unterhöhlung des Rechtsstaats in Polen, Ungarn und Rumänien, zuletzt ansatzweise auch in Italien; die Instrumentalisierung des EU-Haushalts, der ja eigentlich materieller Ausdruck der Solidargemeinschaft ist; die Tendenz zur Exklusion bestimmter Menschengruppen wie etwa der Flüchtlinge und Asylsuchenden aus universalen Werten wie der Menschenwürde; die Tendenz, Sozialneid und Ängste zu schüren. Der Konsens über fundamentale Ziele und Werte, der nach den schrecklichen Erfahrungen zweier Weltkriege etabliert wurde, ist zerbrochen.


"Die EU hat sich im Jahr 2000 für das Motto 'In Vielfalt geeint' entschieden. Eint uns denn die Vielfalt? Ja: Unsere Grundwerte Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte und Humanitarismus sind die Grundlage von Vielfalt. Das eine geht nicht ohne das andere. Vielfalt ist aber auch Resultat der europäischen Kultur und Geschichte und wird als Wert für sich anerkannt, sie wird als Kulturerbe gepflegt. Humanitarismus geht nicht ohne Anerkennung von Vielfalt – Menschen sind vielfältig, Menschsein braucht Vielfalt, ein würdiges Leben braucht Respektierung der Vielfalt", so Schmales Antwort auf die aktuelle Semesterfrage "Was ein Europa?". Diskutieren Sie darüber mit ihm auf derstandard.at.

uni:view: In Österreich, aber auch anderen EU-Ländern scheint sich Europamüdigkeit breit zu machen. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Schmale:
Die Mehrheit der Europäerinnen und Europäer ist eigentlich nicht "europamüde", sondern nutzt die Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten, die insbesondere durch die EU geschaffen worden sind. Nach dem Scheitern einer europäischen Verfassung im Jahr 2005 wurde mit dem Vertrag von Lissabon (2007 geschlossen, seit 2009 in Kraft) dem Nationalismus der Mitgliedsländer die Tür geöffnet. Das trägt inzwischen vergiftete Früchte, weil Probleme wie die Finanzkrise oder die Fluchtbewegungen internationale, ja globale, Ursachen haben und nicht national, sondern nur gemeinschaftlich bewältigt werden können. Der nationale Egoismus verhindert Lösungen, das Politikversagen ist national, wird aber zur eigenen Entlastung auf die EU geschoben. Das führt zur Entfremdung.

uni:view: Nationalismus und Populismus erleben derzeit in vielen europäischen Staaten merklich Aufwind. Wo sehen Sie hier die Ursachen?
Schmale:
Beides ist seit den 1980er Jahren bekannt. Der Fall der Mauer und die Öffnung des Eisernen Vorhangs 1989 hat die nationalistischen und populistischen Abschottungstendenzen vorerst emotional positiv überdeckt bis zur großen EU-Erweiterung 2004. Die negative Dynamik aus Nationalismus und Populismus lief verdeckt weiter, wurde aber wenig beachtet. Die Parteien der sogenannten Mitte haben es versäumt, sich glasklar vom Rechts- und Linkspopulismus sowie vom Rechts- und Linksnationalismus abzugrenzen und offensiv für die Wertegrundlage von Demokratie einzusetzen: Unbedingte Anerkennung der Menschenwürde für alle Menschen – was in der Praxis zum Beispiel Verzicht auf Pauschalierungen negativer Ereignisse in Bezug auf ganze ethnische Gruppen und Unterlassung jeglicher Varianten von Rassismus bedeuten würde. Die rhetorischen Mauscheleien von Angehörigen der Mitte-Parteien insbesondere mit Rechtsparteien bzw. rechtsextremen Parteien sind Wasser auf die Mühlen der Nationalisten und Populisten.

uni:view: Wie schätzen Sie die Zukunft der Europäischen Union ein?
Schmale:
In meinem Buch plädiere ich für mehr politische Rechte für die Europäerinnen und Europäer. Reformbestrebungen dürfen sich nicht nur auf zweifellos richtige Ziele wie mehr gemeinsame Verteidigung oder eine Stärkung der Eurozone durch ein investitionsorientiertes Eurobudget beschränken, sondern müssen die Rolle der BürgerInnen stärken. "Mehr Demokratie wagen!" gilt auch in Beziehung auf die EU. In der Vergangenheit haben Persönlichkeiten mit der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs wie Simone Veil, François Mitterrand und Helmut Kohl die EU konstruktiv geprägt und entwickelt; das Wohlergehen der EU hängt auch von PolitikerInnenpersönlichkeiten ab. Davon gibt es immer weniger.

Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten LeserInnen zur Verfügung:   

1 x "Was wird aus der Europäischen Union?" von Wolfgang Schmale, Reclam Verlag
1 x "Alle, außer mir" von Francesca Melandri, Wagenbach Verlag 

uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren LeserInnen?
Schmale:
Ich empfehle von Francesca Melandri "Alle außer mir". Eingebettet in eine Familiengeschichte werden in dem Roman die Zusammenhänge zwischen italienischem Faschismus, Abessinienkrieg und aktuellen Flüchtlingsbewegungen aus Äthiopien nach Italien ausgeleuchtet.

uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Schmale:
Es handelt sich um einen Roman, der sich bestens liest, zugleich hat F. Melandri gründlich recherchiert und leistet die Arbeit einer Historikerin. Sie konfrontiert objektive Schuld – wie im Abessinienkrieg – und gesellschaftliche Verlogenheit mit den individuellen Lebensperspektiven und Handlungen ihrer 'Heldinnen' und 'Helden'; niemand ist hier einfach gut oder einfach schlecht.

uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Schmale:
Die sensiblen Analysen der Autorin sind eine Mahnung an uns LeserInnen, die eigene Zeit genauestens zu beobachten, um uns vor einem Abgleiten in jene verhängnisvoll miteinander verknüpften scheinbar separaten Entwicklungen in der Zwischenkriegszeit, die schließlich aus Europa ein Schlachthaus machten, zu bewahren. Das in Europa üblich gewordene gehässige Auftreten gegenüber Flüchtlingen aus Afrika sollte uns zum Nachdenken bringen. (td)

Wolfgang Schmale ist Historiker und Professor für Geschichte der Neuzeit am Institut für Geschichte der Universität Wien. Schmale ist Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste sowie der Academia Europaea. Ein Schwerpunkt von ihm ist die Europaforschung.

Open Access Veröffentlichung von Wolfgang Schmale
European Solidarity. A Semantic History. In: European Review of History, issue 6, 2017