Das Glück der Streuner

Hund vor Tempel

Die Rechtswissenschafterinnen Iris Eisenberger und Michaela Windischgrätz berichten in uni:view regelmäßig von ihren Besuchen in Bhutan, wo sie den Aufbau der Rechtswissenschaftlichen Fakultät begleiten. Dieses Mal sind Streunerhunde das Thema, die dort zum Alltag gehören. Ein Erfahrungsbericht.

Es ist zwei Uhr morgens, Vollmond und ganz Thimphu – die Hauptstadt von Bhutan – ist hellwach. Hunderte Hunde geben ein Konzert, Vollversammlung am Hauptplatz, dort johlen sie um die Wette. Man weiß nicht, ob man sich fürchten, andächtig lauschen oder einfach weiterschlafen soll. In der Nacht gehört die Stadt den Hunden, offenbar erhalten auch sie Anteil an "Gross National Happiness". Nichtsdestoweniger sind die Hunde im Himalayaraum seit mindestens tausend Jahren eine Herausforderung für die Menschen. Rechtstexte aus der Zeit des Tibetischen Großreichs (619-842 n. Chr.) sehen Strafen für diejenigen vor, die Hunde auf andere Menschen hetzen. Je nach Status des Opfers drohen Todesstrafe, Verbannung oder Schadenersatz. Hundeattacken von Streunern hatten naturgemäß keine rechtlichen Konsequenzen.

In der Nacht streifen hunderte Hunde durch die Hauptstadt Bhutans, Thimphu, und geben nicht nur ein Konzert zum besten. (© Iris Eisenberger)

Im Emergency Room

Als wir am Vormittag in der Rechtsgeschichtevorlesung diese Fälle besprechen, ahnen wir nicht, dass eine von uns beiden selbst Opfer eines Streuners werden wird. Eine Meute von Straßenhunden greift an und ermöglicht uns, den Emergency Room des Bhutanischen Gesundheitsservices kennenzulernen, Tetanus- und Tollwutimpfung inbegriffen. Ein in Sri Lanka ausgebildeter junger, sehr kompetenter bhutanischer Arzt führt die Behandlung durch. Sein niedriges Gehalt lässt die amerikanische Leiterin des Zentrums fürchten, dass ihr bester Mann dem Bhutanischen Gesundheitssystem nicht lange erhalten bleiben werde, schließlich habe er ein prestigeträchtiges Ausbildungsstipendium für Australien erhalten. Gebe es für die StipendiatInnen keine Rückkehrpflicht, würden einige ihr Heimatland dauerhaft verlassen, obwohl das Land sie dringend benötigt.

Wachsende Hundepopulation

Unser Erlebnis ist kein Einzelfall. Im JDW Hospital in Thimphu werden rund zwölf Hundebisse täglich behandelt, so berichtete die Tageszeitung Kuensel am 4. Juni 2018. Der zuständige Veterinärbeamte schätzt, dass in Thimphu ca. 8.000 Straßenhunde leben. Demensprechend belastet ist die grundsätzlich tierliebende buddhistische Bevölkerung. Gegen die wachsende Hundepopulation hat die Regierung im Jahr 2009 Kastrations- und Sterilisationsprogramme eingeführt. Unzählige Hunde wurden seither landesweit mit Netzen eingefangen und kastriert oder sterilisiert. Ein gekapptes Ohr signalisiert die erfolgte Operation.

Unter der Leitung von Michaela Windischgrätz, Rechtswissenschafterin und Tibetologin, haben die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien und die JSW Law School ein Teaching Mobility Programm abgeschlossen, um jährlich vier Lehrende der Universität Wien zur Unterstützung des größtenteils noch sehr jungen Lehrpersonals an die JSW Law School zu entsenden. Im Bild: Blick über Thimphu, Bhutans rasch wachsende Hauptstadt. (© Iris Eisenberger)

Hundetötungen sind ausgeschlossen

Das Programm ist nur bedingt erfolgreich, denn die Hunde sind schlaue Überlebenskünstler. Viele entkommen oder können nicht gefasst werden, denn sie kennen die veterinärmedizinischen Fahrzeuge und verstecken sich rechtzeitig. Hundetötungen sind ausgeschlossen, der gewaltfreie Buddhismus lässt dies nicht zu, auch wenn Fleisch durchaus am Speiseplan der Bhutaner steht. Das Schlachten übernehmen jedoch andere, das verkaufte Fleisch ist meist aus Indien importiert. Der einzige Schlachthof in Tsirang ist ein Stein ständigen Anstoßes. Sowohl der regionale Monk Body als auch die Bevölkerung wehren sich aus religiösen Gründen und auch aufgrund mangelnder Hygiene gegen das Schlachten in Tempelnähe.

Rechtliche Lösungen

Als Juristinnen fragen wir uns natürlich, wie durch die Hunde ausgelöste Konflikte rechtlich gelöst werden. Schadenersatzklagen von Privatpersonen, die gebissen wurden, gibt es bislang keine, erzählt ein Richter. In den Dörfern werde das mit ein paar Eiern und einer Flasche Schnaps geregelt. Vor Gericht gab es bisher nur einen einzigen Fall: Der Gouverneur der touristisch stark frequentierten Provinz Bumthang litt unter den Beschwerden von TouristInnen über die Hundeplage. Er ließ kurzerhand alle Hunde einfangen und über die Berge in die Nachbarprovinz Mongar bringen. Die bald ausgehungerten Hunde rissen dort Schafe und Rinder. Daraufhin klagte der Gouverneur von Mongar den Gouverneur von Bumthang auf Schadenersatz. Die Aktion war zwar rechtlich erfolgreich, nicht aber praktisch, denn die Hunde fanden bald zurück in ihre Heimat.

Uns bleibt ein nachhaltiger Eindruck: Bhutan ist ein Land der Ambivalenzen. Trotz zahlloser Hundeattacken lassen die Bhutaner die Hunde gewähren; viel mehr noch, sie füttern sie zuweilen auch. Sie gehören einfach zum Leben dazu, mit ihren nächtlichen Konzerten ebenso wie mit ihren Attacken und den rechtlichen Problemen, die sie verursachen. Für die Streuner bleibt es ihr Glück.


Ao. Univ.-Prof. MMag. Dr. Michaela Windischgrätz ist am Institut für Arbeits- und Sozialrecht der Universität Wien tätig und leitet das Bhutan-Projekt. Univ.-Prof. Dr. Iris Eisenberger, M.Sc. (LSE) ist Leiterin des Instituts für Rechtswissenschaften an der BOKU und hält Lehrveranstaltungen am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien.