"Wir befinden uns in einem 'sozialen Dilemma'"

Frau mit Maske sitzt im Zug

In der Coronakrise erleben wir eine starke gesetzliche Verhaltensregulation. Der Psychologe Erich Kirchler, der sich seit vielen Jahren mit Nudging – dem Lenken des menschlichen Verhaltens – beschäftigt, erklärt im Gastbeitrag, warum Verhaltensänderungen ohne gesetzliche Vorgaben nicht durchsetzbar wären.

Es gibt Situationen, die klare Maßnahmen verlangen, die für alle gelten und das Verhalten aller regulieren. Im Falle einer Pandemie sieht das Grundgesetz aus diesem Grund eine teilweise Einschränkung unserer Grundrechte vor. Wenn zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung physische Distanz notwendig ist und der Aufenthalt im öffentlichen Raum möglichst sparsam sein muss, wenn Arbeit-von-Zuhause und Mund-Nasen-Masken im Geschäft zielführend erscheinen, dann sind konkrete Anweisungen durch gesetzliche Regelungen angebracht. Libertär-paternalistisches Vorgehen, also Nudging, würde dazu führen, dass sich einige nicht an die "Stupser" halten. 

Bei Nudging wird das Verhalten von Menschen durch kleine Stupser gelenkt, ohne dabei auf Verbote und Gebote zurückzugreifen. Die Handlungsfreiheit bleibt bei Nudging aufrecht.

Wir befinden uns in einem "sozialen Dilemma". Das heißt, wir sind in einer Situation, in welcher der Einzelne einen Vorteil darin sieht, sich seine Freiheit zu nehmen, sich nicht nach den Regeln zu verhalten, also nicht zu kooperieren. Wenn der Großteil der Bevölkerung sich an die Empfehlungen hält, hat derjenige einen Vorteil, der nicht kooperiert. Wenn viele nach der Maxime egoistischer Nutzenmaximierung handeln, dann entsteht für alle ein Schaden. Nicht-kooperatives Verhalten Einzelner würde kooperativ handelnde Menschen demotivieren und schnell Nachahmer*innen finden. Dabei würden jene, die egoistisch handeln, nicht nur sich selbst gefährden, sondern viele andere auch. 

Verstehen und Akzeptanz von Regeln

Auch wenn Nudging nicht die "Strategie der Stunde" ist, bedeutet das nicht, dass psychologisch begründetes Vorgehen nicht sinnvoll ist. Eine sachlich konkrete Kommunikation des Wissensstandes und der Maßnahmen, die der jeweiligen Lage angemessen sind, hat oberste Priorität.

Um die von der Regierung getroffenen Maßnahmen für richtig zu erachten und freiwillig zu befolgen, benötigen wir konkrete, fachliche Information, die professionell von glaubwürdigen Expert*innen kommuniziert wird. Auch die klare Unterscheidung von gründlich überprüften und falschen Informationen ist wesentlich. Wir brauchen konkrete Hinweise, wo empirisch belegte Information verfügbar ist. Die klare Warnung vor Fake News ist notwendig. Auch Etappensiege, die durch die Maßnahmen gegen eine Ausbreitung des Virus erzielt werden, sind wichtig, weil sie Zuversicht geben. 

Corona-Virus: Wie es unser Leben verändert
Von neuen familiären Abläufen bis hin zu den Auswirkungen auf Logistikketten: Expert*innen der Universität Wien sprechen über die Konsequenzen des Corona-Virus in unterschiedlichsten Bereichen. (© iXismus/Pixabay)
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Vertrauen in die fachliche Kompetenz von Expert*innen und in wissenschaftliche Institutionen, die die politischen Entscheidungsträger beraten, ist fundamental. Fundamental für die Akzeptanz und Einhaltung der angeordneten Maßnahmen ist auch, dass darauf vertraut werden kann, dass die politischen Entscheidungsträger das Wohlwollen der Bevölkerung zum obersten Ziel haben. Deshalb müssen die Maßnahmen klar kommuniziert werden, konkret der jeweiligen Situation angepasst sein und deren erhoffte und festgestellte Wirkung muss nachvollziehbar erscheinen.

"Erklärungs- und Verklärungsfehler" in der Rückschau

Was wird sein, wenn die Corona-Krise einmal bewältigt worden ist? Werden wir uns an die Ziele erinnern, die Gesundheit der Menschen über alles zu stellen und den Erhalt von Arbeitsplätzen zu sichern? Die Psychologie kennt das Phänomen des sogenannten Rückschaufehlers und weiß von den Schwächen und Tricks des Gedächtnisses. 

Im Rückblick werden wir – wenn wir noch einmal davongekommen sind – die Sparmaßnahmen als erdrückend wahrnehmen, das Fehlen von Arbeit beklagen und die erbrachten wirtschaftlichen Opfer als übertrieben bewerten. Der materielle Verlust wird schmerzhaft sein und der "Wiederaufbau" wird länger dauern als unsere Geduld anhalten wird. Was uns heute als notwendige Maßnahmen zum Schutz der Menschen erscheint, wird dann nicht als Selbstverständlichkeit erinnert werden. Wir werden nach Schuldigen suchen, die uns in die prekäre ökonomische Lage gebracht haben und weniger an das vorrangige Ziel denken, unsere Gesundheit zu schützen. Vielleicht werden wir die Schuldigen unter den Politiker*innen finden, deren Strategien wir heute mehrheitlich zustimmen.

Die Erinnerung an die heutigen Sorgen und heutigen Ziele muss wach gehalten werden, damit wir uns von der Krise, den Folgekosten und den Anstrengungen sie zu bewältigen nicht in erbärmliche Nationalismen zurückwerfen lassen.

Erich Kirchler ist Professor am und Vorstand des Instituts für Arbeits-, Wirtschafts- und Sozialpsychologie an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. Er forscht zu Kooperation im Staat am Beispiel der Steuerpsychologie, Finanzentscheidungen im Haushalt, zu Geschlechtsstereotypen in Führungspositionen und zu Befinden und Arbeitslosigkeit. (© Petra Schiefer)

Die Langfassung dieses Beitrags ist am 8. April 2020 in "Die Wirtschaft" erschienen.