Der Staatsvertrag: Harte Arbeit und viel Glück

Foto des Schriftstücks österreichischer Staatsvertrag

Am 15. Mai 2020 jährt sich die Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags zum 65. Mal. Die Historiker Gerald Stourzh und Wolfgang Mueller haben in jahrelanger Archivarbeit die Hintergründe der Vertragsunterzeichnung erforscht und sind sich einig, dass "Österreich enormes Glück hatte".

Der Abschluss des österreichischen Staatsvertrags am 15. Mai 1955 war nur unter spezifischen Voraussetzungen möglich. Dazu zählen harte Verhandlungen, die Unterstützung Österreichs durch die Westmächte, der bevorstehende NATO-Beitritt Westdeutschlands und ein neuer Kurs der Sowjetunion. Ohne diese Faktoren, aber auch nach der sowjetischen Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes 1956 wäre die Zustimmung Moskaus zumindest kurzfristig fraglich gewesen. Das sind einige der Befunde, die nach Auswertung u.a. österreichischer, deutscher, englischer, französischer, sowjetischer und US-amerikanischer Archivakten, Publikationen und Interviews vorliegen.

"Um Einheit und Freiheit"

Gerald Stourzh, emeritierter Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Wien, und Wolfgang Mueller, Professor für Russische Geschichte, haben mit Unterstützung des Zukunftsfonds in jahrelanger Arbeit die Archive erforscht. Erste Arbeiten Stourzh’ zum Staatsvertrag stammen aus den 1960er Jahren. Von der 1. Auflage bis zur wesentlich umfangreicheren 5. Auflage 2005 war er Alleinautor des klassischen Standardwerks zum Staatsvertrag "Um Einheit und Freiheit". Seit 2000 erforscht Mueller die sowjetische Österreich-Planung und -Politik nach 1945 und publiziert Standardwerke dazu auf Basis sowjetischer Archivdokumente, Politbürobeschlüsse und der Korrespondenz Stalins mit der KPÖ. 

Gegensätze zwischen Ost und West

Grundsätze der Politik der Alliierten des Zweiten Weltkriegs waren die Anerkennung Österreichs als erstes Opfer Hitler-Deutschlands und die von Winston Churchill seit 1940 geforderte Wiederherstellung von Österreichs Unabhängigkeit. Die Alliierten erinnerten aber auch daran, dass "es für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann". Nachdem sich Österreich im April 1945 wieder konstituiert hatte, brachen bald die Gegensätze zwischen Ost und West auf. Insbesondere seit der Wahlniederlage der KPÖ am 25. November verschärfte sich die sowjetische Gangart gegenüber Österreich. "Als die USA 1946 über einen Abzug der vier Mächte aus Österreich verhandeln wollten, setzte Stalin auf Verzögerung", so Mueller. 

Die Sowjetunion wollte nicht abziehen, um ihre Position in Osteuropa bei der Errichtung kommunistischer Diktaturen nicht zu schwächen. Dies blieb bis 1952 so. 1948 zögerten temporär auch die Westmächte, da sie fürchteten, nach einem Abzug aus Österreich könnte die KPÖ mit sowjetischer Unterstützung die Macht ergreifen. Eine Teilung Österreichs, wie sie die KPÖ-Führung andachte, wurde aber vom Kreml nicht unterstützt. 

Neutralität Österreichs nach Schweizer Vorbild

1952 schlug die Sowjetunion die Neutralisierung Deutschlands vor, um die militärische Westintegration Westdeutschlands zu torpedieren. Im folgenden Jahr begann sich in Moskau der Gedanke durchzusetzen, eine Neutralisierung Österreichs könnte dessen weitere Annäherung an den Westen verhindern und als Modell für Deutschland dienen. Ab 1954 wusste der Kreml, dass die USA eine Neutralität Österreichs nach Schweizer Vorbild akzeptieren würden, wie Stourzh herausgefunden hat. Als Anfang 1955 der NATO-Beitritt Westdeutschlands nahte, setzte Nikita Chruschtschow im internen sowjetischen Machtkampf die Zustimmung zum Staatsvertrag durch. Der Preis dafür war die österreichische Neutralität. Das Gesamtpaket ermöglichte die sowjetische Zustimmung zum Ende der Ost-West-Besetzung.

Zähe Detailarbeit

Da der Staatsvertrag 1947-1949 in zäher Detailarbeit fast fertig verhandelt worden war, wobei vor allem amerikanische und britische Diplomaten wie Samuel Reber, Sir Ivo Mallet und später Llewellyn Thompson die österreichischen Interessen vertraten, konnte er 1955 rasch abgeschlossen werden. Die sowjetisch beschlagnahmten Wirtschafts- und Erdöl-Betriebe kamen in österreichischen Besitz, allerdings boten die Österreicher einen stark überhöhten Preis. In den folgenden Jahren empfahl die Sowjetunion die Neutralität auch anderen westlichen Staaten, um sie aus der NATO zu lösen, und nahm die österreichische Neutralität zum Anlass, sich regelmäßig mit Lob, aber auch Kritik zur Außenpolitik Österreichs zu Wort zu melden. Dennoch: "Österreich hatte enormes Glück", sagen die beiden Forscher. Was kann man heute aus den Verhandlungen lernen? "Dass die äußeren Umstände entscheidend sein können", meint Mueller. "Und dass das zähe Kämpfen um Details und Formulierungen in Verträgen enorm wichtig ist", ergänzt Stourzh.

Gerald Stourzh ist emeritierter Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Wien und Wolfgang Mueller ist Professor für Russische Geschichte am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien.