"Der Westen könnte einiges vom Osten lernen"

Wenn es um demokratische Werte geht, blicken Politik und Medien im Westen oftmals eher abschätzig in Richtung Osteuropa. Warum es die Demokratie dort so schwer hat und was wir trotzdem von unseren östlichen Nachbarn lernen könnten, schildert Historiker Oliver Schmitt.

uni:view: Herr Schmitt, Sie sind Professor für die Geschichte Südosteuropas. Was ist aus Ihrer Sicht an dieser Region besonders spannend?
Oliver Schmitt:
Das Faszinierende für mich ist, dass wir dort auf einem Gebiet, das kaum größer ist als Frankreich, eine der komplexesten kulturellen, sozialen und religiösen Gemengelagen in Europa vorfinden. Das macht eine Untersuchung dieser Region allein schon aufgrund der erforderlichen philologischen Kenntnisse zu einer enormen Herausforderung. Für mich ist das, als hätte man es mit einer Art "Europa im Kleinen" zu tun, wo sich verschiedene kulturelle Einflusszonen berühren und überlappen. Dieser hohe Komplexitätsgrad macht die Region vom analytischen Standpunkt her besonders anziehend.

uni:view: Ihre jüngste Buchveröffentlichung beschäftigt sich mit dem Aufstieg und dem Fall des rumänischen Faschistenführers Corneliu Zelea Codreanu. Warum haben Sie gerade dieses Thema gewählt?
Schmitt:
Der rumänische Faschismus, die sogenannte Legionärsbewegung, war nach dem italienischen und dem deutschen allein schon zahlenmäßig der drittgrößte Europas, wobei die Mobilisierung ganz überwiegend in der Opposition erfolgte. Er wird zwar immer wieder für vergleichende Faschismusstudien herangezogen, ist aber in den Details noch wenig bearbeitet. Es gibt sehr umfangreiche Archive, die bislang jedoch kaum verwendet worden sind. Das Buch über Codreanu ist die erste wissenschaftliche Biografie zu dem Faschistenführer, der in der Zwischenkriegszeit europaweit sehr bekannt war.

In seinem Buch "Căpitan Codreanu" zeichnet Oliver Schmitt die Lebensgeschichte von Corneliu Zelea Codreanu (1899-1938) nach, der im Zwischenkriegseuropa nach Hitler und Mussolini der Dritte in der Reihe faschistischer Führer war. (Foto: Hanser Literaturverlage)

uni:view: Ist die Geschichte Südosteuropas besonders stark durch Faschismus geprägt?
Schmitt:
Es kommt immer darauf an, was man genau als Faschismus definiert. Vielfach hat man es mit einem Ultranationalismus zu tun, der davon ausgeht, dass die Nation in ihrer Existenz bedroht ist und wiedergeboren werden muss. Wenn man das als Kriterium festlegt, muss man feststellen, dass der südosteuropäische Raum mit Ausnahme Rumäniens kaum starke faschistische Bewegungen kannte. Was es aber sehr wohl gab, waren autoritäre Regime, zumeist Königsdiktaturen, und paramilitärische Formationen. In Jugoslawien gab es zum Beispiel Veteranenverbände mit über einer Million Mitglieder. Das waren gewaltbereite Ultranationalisten, denen aber wesentliche Attribute eines Faschismus gefehlt haben. In gewissen Fällen gab es auch Jugendorganisationen, die sich wie im Falle Griechenlands an faschistischen Vorbildern orientierten. Aber eine faschistische Region par excellence ist das südöstliche Europa nicht.

uni:view: Warum hatte es die Demokratie dort so schwer?
Schmitt:
In allen Fällen gab es kaum Traditionen institutionalisierter politischer Teilhabe, etwa Parlamente. Die Nationalstaaten der Region gingen im 19. Jahrhundert zumeist aus Aufständen hervor und hatten erhebliche Kriegsschäden zu bewältigen. Die Übernahme zentralistischer Verfassungsmodelle aus Westeuropa erstickte die ohnehin schwachen Strukturen von kommunaler Selbstverwaltung. Alle Staaten sind aus Imperien hervorgegangen, die ein unterschiedliches Erbe hinterließen. Im osmanischen Reich waren die Untertanen nach Religionszugehörigkeit gegliedert, ein Rechtsstaat und vertrauenswürdige Institutionen waren nicht entstanden.

Nach 1918 hatten Staaten wie Jugoslawien oder Rumänien völlig konträre politische, soziale und kulturelle Strukturen zu integrieren. Griechenland hatte eine enorme Flüchtlingswelle aus Kleinasien zu bewältigen. Innere und äußere Instabilität und Integrationskrisen überforderten die zumeist jungen Staaten und beschleunigten den Übergang zu autoritären Systemen. Da der Erste Weltkrieg in Südosteuropa erst 1922 endete und kommunistische Umsturzversuche etwa in Bulgarien bis 1923 andauerten, war das Zeitfenster für den Aufbau einer stabilen Demokratie klein. Ab 1929 rief die Weltwirtschaftskrise Massenelend in den agrarischen Gesellschaften hervor. 1929 ging Jugoslawien als erster postimperialer Staat zu einer Diktatur über. Die anderen Länder folgten bis 1938, so dass am Vorabend des Zweiten Weltkriegs – und damit auch der kommunistischen Diktaturen ab 1944/45 – in Südosteuropa keine einzige parlamentarische Demokratie mehr bestand.

uni:view: In westlichen Medien wird oft von "Osteuropa" gesprochen, ohne wirklich zu differenzieren. Meist wird dabei auch ein eher abschätziges Image transportiert. Woher kommt das?
Schmitt:
Das ist in dieser Form eine recht junge Entwicklung, die freilich historische Wurzeln hat. Nach 1989 ging es den westlichen Gesellschaften vor allem darum, die einst sowjetisch dominierten Länder in die euro-atlantische Gemeinschaft einzugliedern. Der Osterweiterung genannte Prozess bestand in einer Anpassung ostmitteleuropäischer Länder an Normen der Mitgliedstaaten der EU im Westen des Kontinents, nicht aber in einer europäischen Wiedervereinigung, in der sich West und Ost aufeinander zubewegt hätten. Im Westen, aber auch in Staaten wie Deutschland und Österreich, verschwand die Idee eines "Ostblocks" aber offenbar nicht aus den Köpfen. Als die neuen Mitgliedstaaten 2015 in der Migrationsfrage eine eigene Position bezogen, die von jener Brüssels, Berlins und Wiens abwich, wurde dies im Westen mit einer kulturalistischen und moralistischen Reaktion beantwortet: der Konstruktion eines anderen, rückständigen, eines dunklen Europa. Viele der überraschend leicht mobilisierbaren Vorurteile stammen aus dem Kalten Krieg.

Man hat aktuell das Gefühl, dass meinungsbildende politische Kreise in wichtigen alten Mitgliedstaaten die seit 2004 beigetretenen Länder mental allmählich aufgeben. Diese Rückzugsbewegung spielt nationalistischen Kräften, die gegen den Westen und die EU auftreten, ebenso in die Hände wie Russland, China und der Türkei, die das Machtvakuum entschlossen ausfüllen.

uni:view: Der Nationalismus ist also im Aufwind und die Demokratie wird zurückgedrängt?
Schmitt:
Man muss klar sagen, dass im Moment eine sehr kritische Situation besteht. In mehreren Staaten – insbesondere in Polen, Ungarn und Rumänien – versuchen Regierungen, den Rechtsstaat, die Gewaltentrennung und die Medienfreiheit massiv einzuschränken. Tatsache ist, dass wir es in Ländern wie Rumänien oder Bulgarien mit Parlamenten zu tun haben, die von starker Korruption gekennzeichnet sind. Das Parteiensystem ist in vielen Ländern ohnehin instabiler und kaum in der Lage, starke Protestbewegungen wie etwa in Rumänien in den parlamentarischen Prozess zu übertragen. Parlament und Zivilgesellschaft stehen sich so bisweilen als Kontrahenten gegenüber. In manchen Ländern steuert man deshalb auf autoritäre Strukturen zu, so in Ungarn, Rumänien oder Polen.

uni:view: Gibt es auch Widerstand gegen die autoritären Tendenzen?
Schmitt:
Es gibt starke zivilgesellschaftliche Widerstandsbewegungen in der Bevölkerung vieler Länder, die eindeutig in Richtung Westen streben. Es finden immer wieder große Massenkundgebungen statt, die bei uns in den Medien allerdings oft kaum Erwähnung finden. 2013/14 war in Bulgarien zum Beispiel fast ein Siebtel der Bevölkerung auf der Straße, um gegen die korrupte Politik im Land zu demonstrieren. Unsere westlichen Nachrichtenredaktionen hat das aber kaum interessiert. Da aus den Protestbewegungen keine stabilen Parteien hervorgehen und aus dem Westen der EU kaum Unterstützung kommt, verpufft die Mobilisierung oft und die von korrupten Kräften beherrschten Parlamente und Regierungen behalten die Kontrolle.

uni:view: Was könnte der Westen in Bezug auf die Demokratie vom Osten lernen?
Schmitt:
Der Westen könnte in Sachen Demokratie tatsächlich einiges vom Osten lernen. Die große Bereitschaft der Menschen, etwa in Bulgarien oder jüngst in Rumänien, auf die Straße zu gehen und für Rechtstaatlichkeit und Demokratie zu demonstrieren, ist meiner Meinung nach auffallend. Das ist bemerkenswert und wird bei uns als Form der Selbstorganisation von unten unterschätzt. In vielen Ländern gibt es widerständige Intellektuelle, die erhebliche persönliche Nachteile für ihr Engagement in Kauf nehmen.

Die politische Polarisierung, die im westlichen Europa erst in letzter Zeit Konturen gewinnt, ist ausgeprägter – dabei geht es oftmals aber nicht um Kategorien wie links oder rechts, sondern um die Frage nach demokratischem Rechtsstaat oder autoritärem System. Interessant ist zudem, dass sich die Menschen in der europäischen Peripherie oft eher im Klaren darüber sind, was Europa eigentlich ist und was eine europäische bzw. demokratische Kultur ausmacht. Sie wissen ganz genau, was sie von Europa wollen: einen Rechtsstaat, funktionierende Institutionen, tatsächliche Demokratie, Bürgerrechte und Freiheiten, die in jeder Verfassung festgeschrieben, aber keine Selbstverständlichkeit sind. Die reale Erfahrung jahrzehntelanger kommunistischer Diktatur und eine real weiter existierende Bedrohung durch die russische Außenpolitik prägen das Denken – Elemente, die bei uns meist übersehen oder in ihrer Bedeutung heruntergespielt werden.

uni:view: Wohin glauben Sie wird die politische Reise in Südosteuropa in Zukunft gehen? Kann die Kluft zwischen Ost und West noch überwunden werden?
Schmitt:
Die Gefahr eines Auseinanderdriftens zwischen Westen und Osten innerhalb der EU ist im Moment groß. Die Mehrheit der Bevölkerung in den neuen Mitgliedstaaten möchte aber auf gar keinen Fall unter eine russische, chinesische oder auch türkische Hegemonie geraten und lehnt eine Abkehr von einer Orientierung nach Westen ab. Das Entscheidende aus Sicht der europäischen Gemeinschaft ist, diese neuen Mitgliedsstaaten fest an das zu binden, was den Kern der EU ausmacht, das heißt den demokratischen Rechtstaat mit starken und vertrauenswürdigen Institutionen. Dafür muss man auch jene Kräfte in den Ländern unterstützen, die dafür eintreten.

Wenn wir verhindern wollen, dass Osteuropa immer weiter vom Westen abdriftet, müssen wir aber auch die Kluft in unseren Köpfen überwinden und Europa als gemeinsames kulturelles Projekt begreifen, in dem das westliche Europa nicht allein normsetzend sein kann, sondern Normen Gegenstand eines Aushandlungsprozesses sind, bei dem sich alle Seiten bewegen müssen. Dafür bleibt uns nicht mehr viel Zeit, denn die russischen und chinesischen Einflussversuche auf die Region haben deutlich zugenommen. China macht im Wirtschafts- und Infrastrukturbereich Nägel mit Köpfen. Es stellt sich daher die Frage, wer in diesen Ländern künftig etwa die großen Bahnstrecken baut und die Verkehrspolitik bestimmt. Russland instrumentalisiert erfolgreich unterschiedliche kulturelle Wertvorstellungen etwa bei Geschlechterverhältnissen, um das Bild eines angeblich dekadenten Westens zu konstruieren. Für die EU, das heißt die Kommission und die einflussreichen westlichen Staaten der Union, ist jetzt wirklich die Zeit der ausgestreckten Hand gekommen.


uni:view: Und zu guter Letzt die aktuelle Semesterfrage "Was ist uns Demokratie wert?"
Schmitt:
Demokratie bedeutet auch Verantwortung. Diese überträgt die Bürgerin/der Bürger in Wahlen für eine Legislaturperiode den VertreterInnen einer politischen Partei. Diese gewählten ParlamentarierInnen stehen den BürgerInnen und dem Gemeinwesen gegenüber in der Verantwortung. Das Verantwortungsverhältnis ist also wechselseitig. Mit der Wahlentscheidung aber ist die Bürgerin/der Bürger nicht aus ihrer/seiner Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen entlassen. Sie/Er kann sich in der politischen Debatte, im Vereinswesen, auf sozialen Netzwerken oder auf Kundgebungen engagieren und so ihren/seinen politischen Willen artikulieren. Dieses Engagement kann aber auf politische Entscheidungsprozesse nur informell einwirken.

Die Schaffung neuer Formen der Bürgerteilhabe bedeutet aber auch eine größere Verbindlichkeit für beide Teile des politischen Prozesses, Wählerinnen/Wähler und Gewählte. Wie dieser seit längerem in vielen europäischen Ländern geäußerte Wunsch in verantwortungsvoller Weise, in einem klug gewichteten Zusammenspiel mit Parlament, Verfassungsgerichtsbarkeit und einen subsidiär organisierten Steuerwesen (Steuern werden auf jener Ebene, Gemeinde/Land/Bund, eingehoben, auf der sie auch verwendet werden) umgesetzt werden kann, gehört zu den größten Herausforderungen der Demokratie. Denn vermehrte Teilhabe bedeutet immer auch vermehrte Verbindlichkeit und vermehrte Verantwortung.

uni:view: Danke für das Interview! (ms)

Oliver Schmitt (geb. 1973 in Basel) studierte Byzantinistik und Geschichte. Seit 2005 ist er Professor für die Geschichte Südosteuropas am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien und war Sprecher der universitären Forschungsplattform "Wiener Osteuropaforum", die bis 2016 betrieben wurde. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. der Faschismus in Osteuropa (Schwerpunkt Rumänien) im Rahmen der vergleichenden Faschismusforschung, ostmediterrane Stadtgesellschaften im langen 19. Jahrhundert, Gesellschaft und Politik im spätosmanischen Reich sowie soziokulturelle Entwicklungen im albanischen Balkan (19.-21. Jh.).