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Österreichische Gebärdensprache als Forschungsgegenstand

5. Juni 2020 Gastbeitrag von Verena Krausneker
Erst spät wurden die Gebärdensprachen als eigenständige natürliche Sprachen anerkannt. Sprachwissenschafterin Verena Krausneker gibt in ihrem Gastbeitrag zur Semesterfrage einen Überblick über die Geschichte der Gebärdensprache in Österreich und in der Forschung.

Im Jahr 1960 schrieb ein amerikanischer Linguist zum ersten Mal über American Sign Language (ASL; Amerikanische Gebärdensprache) und stellte fest: Das ist kein Hilfssystem, kein Gefuchtel, keine Pantomime. "ASL ist eine Sprache", folgerte der Pionier William Stokoe aus seinen Beobachtungen und wurde damals für diese revolutionäre Feststellung von der amerikanischen Gehörlosengemeinschaft ebenso wie von der Fachkolleg*innenschaft getadelt. Keine andere Sprachfamilie ist optisch so leicht wahrzunehmen – und doch wurden die Gebärdensprachen der Welt von der modernen Sprachwissenschaft jahrzehntelang übersehen. 

Verena Krausneker und Günter Roiss zur Semesterfrage "Wie wirkt Sprache?"

Der lange Weg zur Anerkennung

Auch abseits der Forschung sind die Gebärdensprachen erst spät anerkannt worden. Wien ist zwar in der internationalen Gehörlosengeschichtsschreibung ganz zentral, denn hier wurde schon 1779 eines der ersten staatlichen "Taubstummeninstitute" – eine Gehörlosenschule – der Welt eröffnet. Trotzdem wurde die erste geschriebene Grammatik der ÖGS erst im Jahr 2002 publiziert. 

Hörsaal mit Studierenden und Vortragender
Die Bildung gehörloser Menschen erfolgte über 200 Jahre nicht unter Einbeziehung und Verstehen der jeweiligen nationalen Gebärdensprache. In vielen Ländern der Welt begann die Erforschung der Struktur der nationalen Gebärdensprache erst in den vergangenen 30 Jahren. In den 1980er Jahren wurde erkannt, dass Gebärdensprachen – so wie alle anderen Sprachen – linkshemisphärisch im Gehirn verarbeitet werden. © Barbara Mair

Besonders im Bereich der Gehörlosenbildung sind die Ablehnung und Fehleinschätzung von gebärdeten Sprachen inzwischen genau dokumentiert. Der Blick zurück zeigt: Im späten 19. Jahrhundert wurden gebärdensprachige Pädagog*innen aus den Gehörlosenschulen entlassen. Auch an österreichischen Gehörlosenschulen war gebärdete Kommunikation unerwünscht, wurde bestraft und so stigmatisiert – gehörlose Kinder mussten beispielsweise im Unterricht auf ihren Händen sitzen. Diese sprachliche Unterdrückung im Rahmen der Gehörlosenbildung hat der englische Philosoph Jonathan Rée präzise zusammengefasst:

The story of Deaf education has three great lessons to teach us: the banality of ignorant cruelty, the tenuousness of scientific progress, and – last but not least – the stubborn persistence of folk metaphysics. (Rée 1999:87)
Philosoph Jonathan Rée
Titelbild Kurzfilm "Gehörlose ÖsterreicherInnen im Nationalsozialismus"
Cover: Gehörlose ÖsterreicherInnen im Nationalsozialismus Die von Rée diagnostizierte Grausamkeit wurde vor 80 Jahren unter nationalsozialistischer Herrschaft zum Prinzip erhoben, als Gehörlose zwangssterilisiert und taube Menschen mit anderen Behinderungen getötet wurden. Wie diese individuellen und kollektiven Erfahrungen im nationalsozialistischen Auslöschungsversuch heute noch präsent sind und tradiert werden, wurde im Projekt "Gehörlose ÖsterreicherInnen im Nationalsozialismus" an der Uni Wien belegt. © Verena Krausneker

Ein Jubiläum ohne Folgen?

Vor genau 15 Jahren wurde die ÖGS in der österreichischen Bundesverfassung anerkannt. Diese Errungenschaft ist das Ergebnis einer jahrelangen Allianz von Gehörlosen-Selbstvertretungen, Sprachwissenschafter*innen und einer konsequent solidarischen Behindertenbewegung. 

Die rechtliche Absicherung einer winzigen Minderheitensprache – Schätzungen gehen von 8.000 bis 10.000 Verwender*innen der ÖGS aus – brachte jedoch nicht die erhofften Verbesserungen im Alltag der Sprachgemeinschaft. Der Österreichische Gehörlosenbund hat über Jahrzehnte konsequent und deutlich formuliert, wo Barrieren abgebaut werden sollen und in welchen Lebensbereichen Verbesserungen prioritär sind: Zentral ist der gleichberechtigte Zugang zu Bildung. 

Frau beim gebärden im Hörsaal
2007 wurde im Rahmen des Forschungsprojekts "Sprache Macht Wissen" an der Universität Wien erhoben, dass ein erheblicher Mangel an ÖGS-kompetenten Lehrpersonen in Österreich besteht. Seither hat sich einiges verbessert, maßgeblich zum Beispiel der Zugang zu tertiärer Bildung: Hochschulen bieten mittlerweile verschiedene Möglichkeiten für Gehörlose an, am Unterricht teilzunehmen – beispielsweise durch modifizierte Curricula oder abweichende Prüfungsmethoden. © Barbara Mair

Aber bis heute können hörende Lehrende ihren Dienst an einer Gehörlosenschule antreten, ohne die ÖGS beherrschen zu müssen. Denn es wird davon ausgegangen, dass Medizintechnik und Hörhilfen "das Problem" tauber Menschen beseitigt haben und es so gut wie keine Kinder mehr gibt, die ÖGS "brauchen". Auch hier wird deutlich, wie stark Normierungsdruck wirkt und wie wenig ein mehrsprachiges Leben und Lernen mit ÖGS als unterstützenswert gesehen wird. 

Mein Lieblingswort... "Wenn ich 'Das geht sich aus' oder 'Das wird sich nicht ausgehen' während meiner Vertretungsprofessur am Institut für Deutsche Gebärdensprache der Universität Hamburg gesagt habe, wurde ich angesehen als spräche ich Klingonisch. Die ersten Male dachte ich, mein Gegenüber ist einfach begriffsstutzig oder will partout nicht wahrhaben, was ich sage. Dann habe ich langsam verstanden, dass diese wunderbare Formulierung in Norddeutschland absolut *nichts* bedeutet, nicht deutbar ist und wirklich nicht verstanden wird", so Verena Krausneker. 
 

Sprachforschung als Grundlage für die Pädagogik

Es gibt in Österreich inzwischen maßgeblich verbesserte Möglichkeiten, den Beruf Gebärdensprachdolmetscher*in zu erlernen. Die Gebärdensprachenforschung ist aber immer noch unterrepräsentiert – Einrichtungen wie eine Professur für Gebärdensprachenforschung, ein Institut für Österreichische Gebärdensprache oder ein Sign Language Lab gibt es bisher noch nicht. Das ist aus Sicht der Gebärdensprachlinguistik unverständlich und hat auch gravierende Auswirkungen auf den pädagogischen Bereich. 

Studenten im Hörsaal unterhalten sich in Gebärdensprache
Am Zentrum für Lehrer*innenbildung der Universität Wien kann man sich im Rahmen des Faches Inklusive Pädagogik seit kurzem auf "Gebärdensprachpädagogik" spezialisieren, ab 2020 auch auf Master-Niveau. Der Bildungsbereich hat sich hier in vorbildlicher Weise weiterentwickelt und inklusive Prinzipien und mehrsprachige Lebensrealitäten zum Teil der Forschung und Lehre gemacht. © Barbara Mair

Doch alles, was im Bereich der Gebärdensprachpädagogik, der ÖGS-Lehre und der Gehörlosenbildung geschieht, braucht eine solide Basis, die aus der Sprachforschung kommen muss. Solange es keine ausreichende ÖGS-Forschung gibt, sind alle darauf aufbauenden Fächer in ihrer Entwicklung begrenzt. 

Wenn wir einen optimistischen Blick nach vorne richten, so ist zu hoffen, dass die Forschung zu Österreichischer Gebärdensprache an den Universitäten einen Platz bekommt, der ihr und der Sprachgemeinschaft angemessen ist. Denn seit Jahrhunderten schafft es die kleine ÖGS-Gemeinschaft – auch gegen viele Widerstände – eine blühende Sprache zu erhalten. 

Verena Krausneker lehrt und forscht seit 2002 am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Gebärdensprache, wobei sie vorrangig auf Bildungsaspekte und Gebärdensprachenpolitik fokussiert.

Sie hat mehrere Projekte geleitet, unter anderem die Drittmittelprojekte "Sprache Macht Wissen", "Gehörlose ÖsterreicherInnen im Nationalsozialismus" und "Developing and Documenting Sign Bilingual Best Practice in Schools".