"Erinnerungskultur im Umbruch"

Wie Österreich mit der eigenen Vergangenheit und Geschichte umgeht – und wie sich diese Erinnerungskultur seit 1945 entwickelt hat, analysiert Peter Pirker vom Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien in einem Gastkommentar.

Viel ist dieser Tage wieder von der Opferthese die Rede. Opfer gewesen zu sein, habe das Selbstbild der ÖsterreicherInnen im Zusammenhang mit Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg über Jahrzehnte geprägt. Eine empirische Untersuchung der Erinnerungspraxis in Wien zeigt ein anderes Bild: In den ersten vier Jahrzehnten nach 1945 wurden im öffentlichen Raum Menschen nur selten als Opfer von Verfolgung oder Krieg erinnert. Die meisten Denkmäler erinnerten daran, dass sich Menschen bewusst aufgeopfert haben, als Widerstandskämpfer für Wien, für Österreich, für Gott oder – wenn es um Wehrmachtsoldaten ging – für Heimat und Vaterland.

Ein Blick auf eine neue digitale Karte mit allen seit 1945 errichteten Denkmälern, Gedenkräumen, Gedenktafeln, Ausstellungen etc. zeigt, dass bis Mitte der 1990er Jahre 292 Erinnerungszeichen Widerstandskämpfern und alliierten Soldaten gewidmet waren, jedoch nur 92 Opfern der antisemitischen und rassistischen Verfolgung gedacht wurde. In der Karte nicht eingezeichnet sind Kriegerdenkmäler für Wehrmachtssoldaten. Davon gibt es in Wien etwa 50, die meisten aus den 1950er und 1960er Jahren. Etwa 60 Prozent würdigen den Soldatentod als sinnvolle Hingabe des Lebens.

Wiederentdeckung der Opferthese

Bis Mitte der 1960er entzweite die Frage, welche Form der Aufopferung die Richtige war – Widerstand oder Wehrmacht –, die jeweiligen Veteranenverbände. Dieser Konflikt wurde von oben ruhiggestellt – sowohl ÖVP- als auch SPÖ-Regierungen anerkannten beide Formen der Aufopferung, forderten aber ein Ende des Streits und setzten eine Entpolitisierung der Erinnerung durch. Als Kurt Waldheim 1986 ganz arglos von Pflichterfüllung und Anstand in der Wehrmacht sprach, sprach er die erinnerungspolitische Konvention seiner Generation aus. Deshalb wurde Waldheim auch von prominenten Widerstandskämpfern verteidigt.

Stolpersteine, Denkmäler, Tafeln: Erinnerungszeichen gibt es in Wien viele. Doch wie genau wird der Opfer des Austrofaschismus und Nationalsozialismus gedacht? Das haben Peter Pirker und Walter Manoschek und gemeinsam in dem WWTF-Projekt "Politics of Remembrance and the Transition of Public Spaces (POREM)" untersucht. uni:view hat darüber berichtet (zum Artikel). Die Ergebnisse des Projekts wurden auf einer Website visualisiert. 

Doch inzwischen hatten junge HistorikerInnen die Opferthese in der Unabhängigkeitserklärung vom April 1945 wiederentdeckt und begannen sie als Unschuldsmythos zu entlarven. Mit der Erinnerungskultur hatte die Opferthese aber wenig zu tun, denn sie betraf eine andere Dimension der Vergangenheitspolitik: die Entschädigungs- und Reparationszahlungen, die sich die Gründungsväter der Republik ersparen wollten, indem sie alle Verantwortung für die antisemitische und rassistische Verfolgung nach Deutschland abschoben. Die Opferthese war im Wesentlichen ein politisch opportunes Instrument der Gründungsväter mit geringer gesellschaftlicher Bedeutung.

Hinwendung zu "vergessenen Opfern"

Die Entlarvung der Opferthese brachte aber eine Hinwendung zu den "vergessenen Opfern". Sie setzte in einem völlig veränderten internationalen Umfeld – Ende des Kalten Krieges – viele Energien frei, die lange Abwehr der Opfererinnerung zu überwinden. In den 1990er Jahren drehten neue Akteure, Angehörige, Erinnerungsinitiativen, Schulen, mit Verspätung die Universitäten, das Verhältnis zwischen Aufopferungsgedenken und opferzentriertem Erinnern um.

Nicht alle Innovationen setzten sich sofort durch: Das innovative Projekt "Kündigungsgrund Nicht-Arier" der VHS Simmering brachte 1999 erstmals an Gemeindebauten Gedenktafeln für vertriebene und ermordete Juden an. Es fand in dieser Form wenig NachahmerInnen – BewohnerInnen und Stadtverwaltung waren damit nicht glücklich.

Aber das Prinzip der personenbezogenen Erinnerung an den Wohn- und Arbeitsorten der Verfolgten erachteten immer mehr Menschen als eine adäquate Form des Erinnerns. Ab 2005 fanden mehrere Vereine und der Bezirk Mariahilf mit der Verlegung von Bodenplatten in Gehsteigen einen Weg, Konflikten auszuweichen. Stadt und Bund unterstützten diese Projekte – auf diesen Prinzipien basiert im Wesentlichen der Erinnerungsboom der vergangenen Dekade.

FPÖ gründet "eigene" Opfergruppen


Wie die Erinnerung an die Widerstandskämpfer in den 1950er Jahren hatte auch die Erinnerung an die Verfolgten, insbesondere den Juden und Homosexuellen, Gegner – in Wien Teile der ÖVP und die FPÖ. Ohne die Erinnerung an die Shoah verhindern zu können, begann die FPÖ, neue "eigene" Opfergruppen zu definieren, und Denkmäler für sie zu fordern. So verlangte die FPÖ im Wiener Gemeinderat ein "Mahnmal zur Erinnerung an die Vertreibung, Enteignung und Ermordung von Millionen Altösterreichern deutscher Muttersprache". Ein solches "Auch wir sind Opfer"-Denkmal wurde im Oktober d. J. durch einen FPÖ-nahen Verein für die "Trümmerfrauen" in der Wiener Innenstadt eröffnet.

Der auf dem Denkmal angebrachte Zeitraum 1943-1954 gibt jedoch Rätsel auf. Bei Denkmälern der SPÖ oder der Gemeinde Wien weiß man, was es bedeutet, wenn 1934-1945 angegeben ist (Diktaturen, Verbot der Sozialdemokratie), bei Erinnerungszeichen von ÖVP und KPÖ ist klar, was der Zeitraum 1938-1945 bezeichnet (NS-Herrschaft, Auslöschung Österreichs). Aber welche Periode des Leidens oder Aufopferns meint die FPÖ mit 1943-1954?

Täter, Opfer, Märtyrer, Pflichterfüller?

Nicht an alles darf im öffentlichen Raum erinnert werden. Das regelt das Verbots-, Abzeichen- und Symbolgesetz. Und nicht jeder Mensch ist als Opfer erinnerungswürdig. Der ehemalige Verteidigungsminister Darabos strich 2012 den Aufseher im Vernichtungslager Sobibor Joseph Vallaster aus dem Totenbuch des Heldendenkmals am Heldenplatz. An Vallaster sollten wir uns als Täter erinnern, nicht als Opfer oder gar als Märtyrer. Wie mit dem Heldendenkmal insgesamt weiter verfahren wird, ist weiterhin offen: Wehrmachtssoldaten – sind sie Täter, Opfer, Märtyrer, Pflichterfüller? Diese Fragen werden gerne an ErinnerungsexpertInnen weitergereicht, einer politischen Diskussion werden sie kaum mehr unterzogen.

Erinnern im Haus der Geschichte 

Erinnern als kritisches Befragen der Vergangenheit weicht aber belanglosem Gedenken, wenn Unterscheidungen vermieden werden und jeder historischer Schmerz gleichermaßen erinnert wird. Das Opferparadigma scheint aber so dominant zu sein, dass selbst KunstkritikerInnen andere Zugänge nicht mehr erkennen können. Kürzlich nannte Mathias Dusini im "Falter" das Deserteursdenkmal am Ballhausplatz "Gedenkschrott" und "eine arrogante Abstraktion all jener Leiden, an die das Publikum eigentlich denken sollte". Offenbar hat jedes Denkmal mit NS-Bezug das Leiden von Opfern abzubilden. Das aber will diese Skulptur gerade nicht. Das begehbare "X" des Künstlers Olaf Nicolai mit der Inschrift "all - alone" markiert vielmehr das Entscheiden in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft als die wesentliche Frage, an die zu erinnern ist.

Zeichen jenseits der Aufopferungs- und Opferparadigmen gibt es in Wien nicht viele. Auch keinen Ort, an dem Wissen über die Täter der Shoah tiefer gehend vermittelt wird. Wie die Ausstellung im Haus der Geschichte Österreichs mit dieser Frage umgeht, darauf darf man gespannt sein. Unterdessen wird ein weiteres Mahnmal für die Opfer des Holocaust geplant. Leicht möglich, dass die Liste der Denkmäler, die die FPÖ schon immer errichten wollte, dann ebenso abgearbeitet wird. (APA/red)

Peter Pirker ist Politikwissenschafter und Historiker am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien. Für die Monografie "Subversion deutscher Herrschaft" erhielt er den Michael-Mitterauer-Preis und den Herbert-Steiner-Anerkennungspreis. 2015 wurde er mit dem Hans Maršálek-Preis ausgezeichnet. Derzeit arbeitet er an einem Buch zur Operation Greenup, einer transnationalen Befreiungsaktion im Frühjahr 1945.