Zum Autor Jean Améry. Jenseits von Schuld und Sühne

Am 17. Oktober hat der österreichische Schriftsteller Jean Améry seinen 40. Todestag. Die beiden Germanisten Günther Stocker und Lukas Brandl veranstalten einen Abend zu seinen Ehren. Mit uni:view sprachen sie über den Autor, seine Aktualität und die "Schublade des Holocaust-Literaten".

uniview: Was macht den österreichischen Schriftsteller Jean Améry für Sie als Wissenschafter so interessant?
Günther Stocker und Lukas Brandl: Jean Amérys Texte sind von einer beeindruckenden gedanklichen Schärfe und stilistischen Brillanz und bieten auch heute noch, Jahrzehnte nach ihrem Entstehen, wesentliche Einsichten in die Situation des Menschen in der Moderne. Das Besondere an seinem philosophischen Schreiben ist sein unbeugsames Festhalten an der subjektiven Erfahrung und seine Abneigung gegenüber jeglicher statistischen Abstraktion. Die Essay-Bände des Holocaust-Überlebenden sind nicht nur Berichte darüber, was ihm während des Nationalsozialismus widerfuhr, sondern vor allem aufklärerische Plädoyers für eine Neuorientierung des Denkens in der Erinnerung an die in und durch Auschwitz bewirkte Versehrung der menschlichen Existenz.

Jean Améry (1912-1978), eigentlich Hans Maier, war ein österreichischer Schriftsteller, Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und Opfer des Nationalsozialismus.

uniview: Welches Werk bzw. welchen Essay empfehlen Sie als Einstieg für alle, die Améry kennenlernen möchten?
Stocker und Brandl:
Unbedingt empfehlen würden wir das Buch, mit dem Améry berühmt geworden ist: "Jenseits von Schuld und Sühne" (1966). Darin möchten wir besonders den Essay "Wieviel Heimat braucht der Mensch?" hervorheben. In diesem Text gelingt es Améry in der Auseinandersetzung mit seiner Vertreibung aus Österreich politisch umkämpfte Begrifflichkeiten wie "Heimat" und "Sicherheit" auf erhellende Weise neu zu denken. Was er zur Situation des Exilierten, zur Frage der Herkunft, der Verfolgung und Flucht sowie der Fremdheit schreibt, wirft auch ein scharfes Licht auf unsere Gegenwart. Ebenfalls in dem Buch zu finden ist sein berühmter Essay "Die Tortur" – eine außergewöhnliche phänomenologische Betrachtung der körperlichen Folter, wiederum ausgehend von seiner eigenen, subjektiven Erfahrung.

uniview: Sie sagen, es bestünde der Eindruck, dass Améry 40 Jahre nach seinem Tod noch immer nicht in die österreichische Geistesgeschichte zurückgekehrt ist. Welche Gründe vermuten Sie dafür?
Stocker und Brandl: Einerseits hat die Essayistik keinen großen Stellenwert im deutschsprachigen Literaturbetrieb. Man muss einen Roman schreiben, um als ernstzunehmender Schriftsteller zu gelten. Und andererseits befindet sich Améry in der Schublade des Holocaust-Literaten und Autors eines Selbstmord-Buches. Dadurch werden seine Essays selten als philosophische Texte gelesen. Und sie sind auch nicht im Diskurs einer Neuorientierung des Denkens "nach Auschwitz” – neben Theodor W. Adorno, Hannah Arendt und anderen – verankert.

Günther Stocker ist seit 2011 Assoziierter Professor am Institut für Germanistik der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Nachkriegsliteratur/Literatur im Kalten Krieg, Leseforschung, Literatur und Medien/Intermedialität sowie Moderne österreichische Literatur. (Foto: Universität Wien)

uniview: Améry war ein sehr politischer Mensch. Inwiefern hat sein politisches Denken auch aktuell Relevanz?
Stocker und Brandl:
Gerade weil gegenwärtig nationalistische und autoritär agierende Bewegungen den politischen Diskurs dominieren, ist Amérys radikale Verteidigung der Würde des Einzelnen und der Aufklärung bedeutsamer denn je. Mit den Konzepten von Identität und Fremdheit, den Begriffen von Heimat und Sicherheit wird heute reaktionäre Politik gemacht. Améry hat aus der Erfahrung des "Zivilisationsbruchs", aus der persönlichen Wahrnehmungsverschiebung durch Gewalt und körperliches Leiden, genau darüber nachgedacht und seine Überlegungen lassen uns eine ganz andere, rationale und humanistische Perspektive auf die aktuellen Debatten werfen.

Lukas Brandl studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Wien. Er unterrichtet in Wien Deutsch und forscht zur deutschsprachigen Nachkriegs-Literatur und -Philosophie. In seiner Dissertation an der Universität Wien untersucht er die literarischen Strategien in den autobiographischen Schriften Albert Speers. (Foto: Lukas Brandl)

uniview: Wie kamen Sie auf die Idee, einen Abend aus Anlass des 40. Todestages Amérys zu gestalten?
Stocker und Brandl:
Die Idee zu der Veranstaltung stammt von Lukas Brandl, dessen Buch "Philosophie nach Auschwitz: Jean Amérys Verteidigung des Subjekts" soeben erschienen ist. Tatsächlich erscheint uns der 40. Todestag von Jean Améry am 17. Oktober als guter Anlass, um diesen engagierten Schriftsteller wieder ins Blickfeld zu rücken und über die aktuelle Relevanz seines Denkens zu sprechen. Schön wäre es, wenn wir damit auch KollegInnen und Studierende anregen könnten, Amérys Texte zu lesen.

uniview: Vielen Dank für das Gespräch! (mw)

Veranstaltungstipp:
"Jenseits von Schuld und Sühne": Zur Aktualität Jean Amérys
Ein Abend aus Anlass seines 40. Todestages

Impulsvorträge + Podiumsgespräch: Robert Menasse, Gerhard Scheit und Lukas Brandl
Moderation: Günther Stocker

Mittwoch, 17.10.2018, 19 Uhr
Universität Wien
Fachbereichsbibliothek Germanistik,
Nederlandistik und Skandinavistik
Universitätsring 1
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