"Jeder noch so kleine Schritt Chinas ein großer für die Welt"

China ist der weltweit größte Treibhausgasproduzent und kämpft mit den Umweltfolgen der Industrialisierung. Die Zentralregierung setzt auf Umweltschutz und in die Einführung eines Grünen Bruttoinlandsproduktes. Was das bringen kann, erläutert die Sinologin Susanne Weigelin-Schwiedrzik im Interview.

China zeigte sich zuletzt politisch ambitioniert im Kampf gegen die Klimaerwärmung, gilt aber zugleich als Hauptverursacher des erneuten Anstiegs der globalen CO2-Emissionen 2017. Wie lässt sich Chinas Verhältnis zur Umwelt beschreiben?
Susanne Weigelin-Schwiedrzik: Grundsätzlich steht in China nach wie vor im Vordergrund, dass die Wirtschaft wachsen muss, um die Armut zu überwinden und China zu einer Weltmacht erstarken zu lassen. In diesem Zusammenhang gibt es wenig Raum für Überlegungen zum Umweltschutz. Zugleich gibt es aber auch entgegengesetzte Tendenzen.

In welcher Hinsicht?
Weigelin-Schwiedrzik: In China gibt es durchaus ein Bewusstsein dafür, dass die eigene Industrialisierung unter anderen Voraussetzungen stattfindet, als sie es in Europa getan hat. Bei uns fand die Industrialisierung unter der Annahme statt, genügend – um nicht zusagen: unbegrenzt – Ressourcen nutzen zu können. China versucht als verspäteter Einsteiger in die Industrialisierung, ein anderes Entwicklungsmodell zu erdenken: ein Modell, welches Wirtschaftswachstum unter knappen und immer knapper werdenden Ressourcen möglich macht. Deshalb sind etwa auch Gedanken zur Kreislaufwirtschaft, d.h. die Verminderung von Ressourcennutzung, das Recycling  und die Wiederverwendung, in China schon relativ früh diskutiert und umgesetzt worden.

China arbeitet intensiv an der Umsetzung eines Grünen BIP. Was misst es?
Weigelin-Schwiedrzik: Das grüne BIP zieht von den wirtschaftlichen Gewinnen im Sinne von Wirtschaftswachstum die Kosten der  Verschmutzung der Umwelt ab. Das schmälert natürlich die offiziellen Wachstumsraten der verschiedenen Gebiete und das BIP im Allgemeinen. So stieß das Modell zunächst auf viel Abwehr. Aber nach ein paar Jahren setzen nun alle große Hoffnung in das Grüne BIP. Man hat erkannt, dass damit der Umweltschutz an Wert gewinnt und man selbst auch bei einem geringeren Industrialisierungsgrad als Region relativ gut dastehen kann. Denn die positive Umweltbilanz von jenen Gemeinden, die nicht ausschließlich auf Industrialisierung setzen, kann in der Gesamtbilanz den Schaden in jenen Gebieten ausgleichen, die sehr stark industrialisiert sind und stark die Umwelt beeinträchtigen.

Die Kosten des Wirtschaftswachstums
Wenn 1.000 US-Dollar Wirtschaftswachstum in hochindustrialisierten Ländern erwirtschaftet werden, haben diese laut einer wissenschaftlichen Berechnung einen zusätzlichen CO2-Ausstoß von 0,3 Tonnen. In China beträgt der CO2-Ausstoß bei gleichem Wirtschaftswachstum 3,0 Tonnen – das Land braucht zehn Mal so viel Energie als Europa oder die USA, um ein Wirtschaftswachstum von 1.000 USD zu erwirtschaften. Das liegt Susanne Weigelin-Schwiedrzik zufolge vor allem daran, dass nach wie vor mit Energie ineffizient umgegangen wird und die in China vorhandene sehr ineffiziente Kohle eingesetzt wird.  Ein weiterer Grund sei, dass die Produktion in weiten Bereichen nicht effizient genug organisiert wird.

Zu den größten Umweltproblemen Chinas zählen die Qualität von Luft und Wasser – ein urbanes Problem?
Weigelin-Schwiedrzik: China hat lange die Idee der dezentralisierten Industrialisierung verfolgt, weshalb es auch auf dem Land riesige Chemiefabriken geben kann. Deshalb gibt es auch dort sehr große Umweltprobleme.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen die . Im Sommersemester 2018 lautet sie "Wie retten wir unser Klima?" Die Abschlussveranstaltung dazu findet am Montag, 11. Juni 2018, statt: Unter dem Titel "Herausforderung Klimawandel" hält der Meteorologe Mojib Latif vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung an der Universität Kiel einen Vortrag am Uni Wien Campus. Zur Semesterfrage

Wie sind Chinas Bemühungen beim Umweltschutz also einzuschätzen?
Weigelin-Schwiedrzik: Die Umweltsituation ist inzwischen so schlimm, dass jede praktische Maßnahme, die eine Verbesserung bringt, die Situation nicht nur für China verbessert, sondern auch für die Welt. So bin ich froh, wenn es in China schon einen kleinen Schritt in Richtung Umweltschutz gibt. An sich hat China ein sehr elaboriertes System von Umweltgesetzen – vergleichbar mit unseren Gesetzen. Es gibt aber eine enorme Umsetzungslücke. Und was nützen Gesetze, wenn sie nicht eingehalten werden?

Welche Maßnahmen plant die Regierung, um die Umsetzungslücke zu überwinden?
Weigelin-Schwiedrzik: Das neue Umweltgesetz besagt, dass die örtlichen Kader für die Situation der Umwelt vor Ort zuständig sind. Falls die Umweltgesetze nicht eingehalten werden, gibt es keine Beförderung und damit auch nicht mehr Einkommen. Es ist zu erwarten, dass diese Maßnahme greift.

Das grüne BIP ist in vielen Ländern diskutiert worden, aber man konnte sich nie auf Kriterien zur Berechung einigen ...
Weigelin-Schwiedrzik: Auch in China hat man sich noch nicht auf die Kriterien geeinigt, wie das Grüne BIP berechnet wird. Es gibt noch keinen Konsens über die Lösung der technischen Probleme. Aber in China ist der Leidensdruck so groß, dass man die Kader dazu bekommen muss, Verantwortung zu übernehmen. Da man die Kader nicht mit Idealismus, sondern nur mit harten Zahlen überzeugen kann, erweist sich das Grüne BIP als ein probates Mittel. Das Grüne BIP macht möglich, die Verschmutzung der Umwelt in Zahlen darzustellen – und zwar bezogen auf das, wofür sich jeder in China interessiert: das Wirtschaftswachstum. Für China ist das kein schlechter Ansatz.

Der Beitrag ist in der zweiten Ausgabe des "Newsletter Forschungsverbund Umwelt"  erschienen (Anmeldung). Seit Jahrzehnten wird an der Universität Wien in vielen Instituten erfolgreich zu Umweltfragen gearbeitet. Der Forschungsverbund Umwelt will diese exzellente Umweltforschung nach innen und außen sichtbarer machen.

Wie schätzen Sie die Chancen auf Umsetzung des Grünen BIP ein?
Weigelin-Schwiedrzik: Wir können heute viel größere Datensätze sehr schnell verarbeiten, Stichwort: Big Data. In China meint man, über die Bearbeitung größerer Datenmengen die Mängel in der Berechnung der Kosten von Umweltverschmutzung ausgleichen zu können. Wer weiß, vielleicht ist China ein Land, das sich dann trotz technischer Probleme einigen kann und uns vormacht, wie es gehen könnte. Die Bemühungen dürfen wir nicht hochnäsig abtun. Die Verbindung von Grünem BIP und Big Data birgt aber ein Dilemma: Je differenzierter dieses Grüne BIP ausfällt, umso mehr brauchen wir Daten über das Verhalten jedes Einzelnen. Das hat natürlich Folgen für die Privatsphäre.

Können Sie Beispiele nennen?
Weigelin-Schwiedrzik: In China gibt es eine staatlich orchestrierte Bewegung, bei der sich die Nachbarn gegenseitig beobachten und berichten, wie oft die Klospülung getätigt wurde oder wie mit Müll umgegangen wird. In Zukunft, so manche der Smart City-Pläne, soll das alles über Sensoren beobachtet werden. Die Grenze zwischen privater und öffentlicher Sphäre wird immer obskurer. In China scheint man sich daran nicht zu stören. Deshalb können wir dort beobachten, wovor wir aufgrund unserer Rechtstraditionen zurückschrecken würden. Die Auseinandersetzung mit China hilft uns insofern, Dinge antizipativ zu durchdenken. China bietet uns eine gute Reflexionsfläche und in seiner Dynamik - auch im Umgang mit Lösungsansätzen für die Umweltproblematik - wichtige Denkanstöße.

Vielen Dank für das Interview! (ly)

Susanne Weigelin-Schwiedrzik ist Professorin am Institut für Ostasienwissenschaften der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät und Mitglied des Forschungsverbundes Umwelt der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen u.a. die Moderne Geschichte Chinas und Ostasiens, chinesische Politik (besonders Good Governance im Bereich Gesundheitspolitik, Umweltpolitik und Sozialpolitik) sowie die Kulturrevolution (1966-1976).