Karl Stöger: "Die Verteilung eines Impfstoffes unterliegt dem Gleichheitsgrundsatz"

Symbolbild eines möglichen Covid-19-Impfstoffes

Die Corona-Impfstoffe stehen kurz vor der Zulassung. Darum drehen sich natürlich auch viele rechtliche Fragen. Karl Stöger, Experte für Medizinrecht, spricht im Interview über schnelle Zulassungsverfahren, Impfflicht und die rechtlichen Rahmenbedingungen einer Durchimpfung.

uni:view: Herr Stöger, Sie sind seit Oktober 2020 Professor für Medizinrecht an der Universität Wien. Können Sie kurz erklären, was Ihr Fachgebiet alles umfasst?
Karl Stöger: Das Medizinrecht ist ein vergleichsweise junges Fach. Es umfasst weitgehend alles, was mit dem Gesundheitswesen zusammenhängt: die Berufsrechte der beteiligten Personen und die Rechte der Patient*innen, aber auch die Organisation und Finanzierung, zum Beispiel der Krankenanstalten. Letztlich geht es um die Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen im rechtlichen Kontext.

Podcast-Tipp zum Thema:
Im Podcast Ars Boni vom Institut für Innovation und Digitalisierung im Recht sprechen Nikolaus Forgó und Karl Stöger über die 2. COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung.
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uni:view: Kommen wir zu einem aktuellen Thema. Derzeit werden aufgrund der Pandemie nicht dringende Operationen verschoben, weshalb es immer wieder zu Beschwerden von Patient*innenseite kommt. Können Sie kurz erklären, ob diese Beschwerden gerechtfertigt sind?
Stöger: Grundsätzlich müssen sich Krankenanstalten so organisieren, dass sie in der Lage sind, jederzeit arbeitsfähig zu bleiben. Das bedeutet auch, dass ihre Personalplanung so gestaltet sein muss, dass sie gerade in einer Situation wie der aktuellen immer ausreichend Personal haben, um insbesondere akute Notfälle – und das sind nicht nur Covid-Patient*innen – zu betreuen. Dass nicht dringliche Operationen in Zeiten, in denen damit zu rechnen ist, dass im Intensivbereich die Kapazitäten knapp werden, aufgeschoben werden, ist eine durchaus nachvollziehbare Reaktion – und auch rechtlich haltbar.

uni:view: Bleiben wir bei Covid-19: Der ersehnte Impfstoff steht kurz vor der Zulassung. Normalerweise dauert die Entwicklung eines Impfstoffes mehrere Jahre. Werden wegen der akuten Corona-Lage auch rechtliche Schritte, die bisher dazu nötig waren, verkürzt bzw. vielleicht sogar umgangen?
Stöger: Es gibt ein Zulassungsverfahren für Arzneimittel – zu denen auch Impfstoffe zählen – und das setzt mehrere Schritte voraus, die auch eingehalten werden müssen. Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass niemand – jedenfalls bei den europäischen bzw. amerikanischen Herstellern – vorhat, diese Schritte außen vor zu lassen. Die Pharmafirmen konzentrieren sich derzeit besonders auf diese Impfungen und führen nicht mehrere Studien gleichzeitig durch, daher sind sie schneller.

Zweitens ziehen natürlich auch die überwachenden staatlichen Behörden die Zulassung und Prüfung der Impfung vor. Meines Erachtens dürfen sie auch das im Sinne der Pandemieabwehr. Das heißt nicht, dass etwas schlechter gemacht wird, es heißt nur, dass etwas schneller gemacht wird, weil eine Warteschlange übersprungen wird.

Jedes Semester stellt die Universität Wien eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. Die Semesterfrage im Wintersemester 2020/21 lautet: "Welche Wirkstoffe haben Zukunft?" Zur Semesterfrage

uni:view: Das heißt, es kommt Ihrer Einschätzung nach zu keinerlei Abstrichen im Vergleich zum normalen Prozedere?
Stöger: Es existieren gewisse Mindestvorgaben, wie genau eine klinische Prüfung erfolgen soll, und hier wird man sich derzeit mit dem relativen Minimum begnügen und bestimmte Schritte parallel statt hintereinander durchführen. Das heißt aber nicht, dass rechtliche Standards verletzt werden.

Ein großer Motivator für die Unternehmen ist natürlich auch das viele Geld, das dann winkt. Alle Staaten werden den Impfstoff kaufen und nicht viel darüber diskutieren, ob es billiger geht. Ihnen ist daran gelegen, den Impfstoff so schnell wie möglich ihrer Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Das kommt dem Staat immer noch billiger als weitere Lockdowns.

uni:view: Derzeit ist die Rede davon, dass sich zumindest 50 bis 60 Prozent der Bevölkerung impfen lassen müssen, um eine Durchimpfung zu erreichen. Was, wenn sich zu wenige dafür entscheiden?
Stöger: Das Thema der Impfpflicht hat uns ja schon vor Corona im Zusammenhang mit den Masern beschäftigt und auch dort ist eine Impfpflicht ausgeschlossen worden. Masern sind zumindest in der selben Größenordnung wie Covid-19. In Österreich ist die Politik traditionell sehr skeptisch gegenüber einer Impfpflicht, weil man fürchtet, dass dann die Akzeptanz des Staates sinkt. 

Fakt ist, dass es europäische Staaten wie Italien gibt, die eine Impfpflicht für andere Krankheiten wie etwa Masern durchaus kennen. Die Möglichkeit der Verpflichtung, sich impfen zu lassen, besteht auch in unserer Rechtsordnung und es hat sie mit der Pockenimpfung auch bereits gegeben. Diese Impfpflicht gegen Pocken wurde 1977 aufgrund der weltweit epidemiologischen Lage in Österreich abgeschafft. Aber noch heute existiert mit dem Impfschadengesetz ein Gesetz, das Menschen für einen durch eine Pflichtimpfung entstandenen Schaden entschädigt.

uni:view: Wie würde eine solche Impfpflicht funktionieren?
Stöger: Impfpflicht heißt nicht, dass ich mit Gewalt zum Arzt oder zur Ärztin geschleppt werde, um eine Spritze zu bekommen. Es heißt, dass ich Sanktionen zu erwarten habe, wenn ich nicht bereit bin, mich oder meine Angehörigen impfen zu lassen. Das beginnt bei der Geldstrafe, kann über Kürzungen von Sozialleistungen gehen, bis hin zu Impfnachweisen bei der Einschulung oder beim Kindergarten. Aber wie gesagt, derzeit existiert dazu keine gesetzliche Grundlage in Österreich – sie müsste erst neu geschrieben werden.

uni:view: Wie ist die Verteilung und geplante Durchimpfung rechtlich geregelt? Oder salopp gefragt: Wer darf zuerst?
Stöger: Wenn der Staat diesen Impfstoff besorgt und auch unter den Menschen verteilt, dann gilt für ihn der Gleichheitsgrundsatz der Bundesverfassung. Das bedeutet, dass eine Diskriminierung – in der Form, dass ihn bestimmte Leute erhalten und andere nicht – sachlich gerechtfertigt sein muss. Der Staat wird medizinisch nachvollziehbar Gruppen identifizieren, bei denen die Impfung für alle, und nicht nur für die Betroffenen selbst, am meisten bringt. Es wird sinnvoll sein – auch rechtlich gesehen – bei jenen Menschen anzufangen, die besonders exponiert sind. Dazu zählen etwa Personen im Gesundheitswesen oder Unterrichtswesen und natürlich Risikogruppen.

uni:view: Unsere Semesterfrage "Welche Wirkstoffe haben Zukunft?" habe ich für Sie als Rechtswissenschafter etwas adaptiert: "Welche rechtlichen Maßnahmen braucht es für Wirkstoffe der Zukunft?"
Stöger: Die besondere Herausforderung bei diesem Thema ist meines Erachtens, dass man eine Balance findet: Die Konditionen für die Wirkstoffhersteller müssen in Österreich so attraktiv sein, dass sie gerne nach Österreich verkaufen und andererseits müssen die Preise auch wieder so angemessen sein, dass ich einen möglichst großen Teil der Bevölkerung staatlich finanziert mit nötigen Wirkstoffen versorgen kann. Und das ist ein Balanceakt, der uns seit Jahren beschäftigt.

uni:view: Vielen Dank für das Interview! (td)

Karl Stöger hat seit Oktober 2020 die Professur für Medizinrecht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien inne. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. öffentlich-rechtliche Fragen des Medizinrechts – insbesondere Qualitätssicherung, Organisation des Gesundheitswesens, Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung und Berufsrecht der Gesundheitsberufe. (© Foto Baldur)