Kritik des Schaffens

Stephan Grigat leitet die Vorlesung "Philosophie der Arbeit" an der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft. In einem Gastkommentar zur Semesterfrage kritisiert der Philosoph Arbeit an sich und plädiert für gesellschaftliche Bedingungen, die einen produktiven Müßiggang ermöglichen.

Arbeit macht krank, Arbeit ist Mühsal und macht unglücklich. Karl Marx wusste das und hat allen Kritikern und Kritikerinnen gesellschaftlicher Elendsproduktion ins Stammbuch geschrieben: "Das Reich der Freiheit beginnt erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört." Bereits als junger Mann hatte er konstatiert: "Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich."

Vernutzung der Arbeitskräfte

Der Mainstream der sich merkwürdigerweise immer wieder auf Marx berufenden Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung hat die "Vernutzung" der Arbeitskräfte zum Zweck der Verwertung des Kapitals hingegen zum sine qua non der Selbstverwirklichung geadelt. Das proletarische Schaffen sei gut, und der eigentliche Skandal des Kapitalismus bestehe darin, nicht jedem Menschen einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen.

Freudlose Beschäftigungen

Oscar Wilde hingegen schrieb 1891 in seinem Essay "Der Sozialismus und die Seele des Menschen": "Es ist geistig und moralisch genommen schimpflich für den Menschen, irgendetwas zu tun, was ihm keine Freude macht, und viele Formen der Arbeit sind ganz freudlose Beschäftigungen." Hätte sich die Linke in den letzten 100 Jahren mehr an Wildes vorzüglicher und leider viel zu unbekannten Schrift orientiert, anstatt den Arbeitsfetischismus ihrer zumeist moralinsauren Vordenker aufzusaugen, hätte sie gewusst, dass Arbeit den Menschen in aller Regel nicht erfüllt, sondern fertigmacht. Sie würde nicht beklagen, dass der Gesellschaft die Arbeit ausgeht, sondern skandalisieren, dass in der bestehenden Gesellschaft solch eine ausgesprochen begrüßenswerte Entwicklung zu keiner Befreiung führt.

Ausschweifung und Genuss

Was ist das für eine Welt, in welcher der technische Fortschritt systematisch neues Elend verursacht, anstatt die Menschen von der Plackerei der Arbeit zu befreien? Und was sind das für Menschen, die angesichts der Einrichtung dieser Welt nicht mit aller Leidenschaft für jenes ganz Andere streiten, das es den Individuen ermöglichen müsste, sich in Ausschweifung und Genuss, geistiger und körperlicher Hingabe, Kunst und intellektueller Selbstreflexion als Gattungswesen überhaupt erst zu konstituieren?

"Die Arbeit hoch"

Statt für die Bedingungen der Möglichkeit individueller Freiheit und gesellschaftlicher Autonomie zu streiten, für eine Art produktiven Müßiggang, der das Gegenteil von auf die Dauer nur Langeweile verströmendem Nichtstun wäre, suchen allzu viele in der Schinderei der Arbeit Erfüllung – und finden sie womöglich auch noch. Die Linken haben den Arbeitsfetischismus keineswegs für sich gepachtet. Ob SozialdemokratInnen oder BolschewistInnen, ob christliche Soziallehre, islamistischer Furor oder faschistischer Produktivitätswahn, ob LeninistInnen oder liberale VerwertungsapologetInnen – bei aller Heterogenität ihrer jeweiligen politischen Projekte konnten und können sie sich doch alle für die elende Parole "Die Arbeit hoch" begeistern.

Stephan Grigat ist Lehrbeauftragter an den Instituten für Politikwissenschaft, Philosophie und Judaistik der Universität Wien sowie Permanent Fellow am Moses Mendelssohn Zentrum der Universität Potsdam und Research Fellow am Herzl Institute for the Study of Zionism and History der Uni Haifa. (© Jüdisches Museum Wien/Sonja Bachmayer )

Fanatische Lobpreiser der Arbeit

Sayd Qutb, der Vordenker der ägyptischen Muslimbruderschaft, lobt den Islam dafür, dass er den Menschen im "Zentrum Afrikas […] die Freude an der Arbeit" lehrte. Viele der fanatischsten Lobpreiser der Arbeit waren zugleich die schlimmsten AntisemitInnen, welche die produktive Arbeit stets von "zersetzenden" Kräften bedroht sahen: Von Martin Luther über Henry Ford bis zu Adolf Hitler, der "den Sieg des Gedankens der schaffenden Arbeit, die selbst ewig antisemitisch war und antisemitisch sein wird" propagierte. Wie ernst er das gemeint hatte, konnte man später über den Toren der Vernichtungslager nachlesen: "Arbeit macht frei".

"Arbeit adelt"

In der Bibel heißt es: "Wenn jemand nicht arbeiten will, soll er auch nicht essen." Auf den Parolenbändern der stalinistischen Arbeitslager wurde das nur geringfügig abgewandelt. Papst Ratzinger verkündete, die Arbeit trage dazu bei, "Gott und den anderen näher zu sein." Beim Nazi-Versand ihres Vertrauens können Sie "T-Hemden" mit der Aufschrift "Arbeit adelt" erwerben, dem alten Slogan des nationalsozialistischen Reichsarbeitsdienstes. Bei der NPD firmiert "Arbeit" noch vor "Familie" und "Vaterland", die Freiheitlichen ArbeitnehmerInnen forderten "Hackeln statt packeln", und linke Gruppen drohen ihren Gegnern in ihren abgehalfterten Demoparolen an, sie "in die Produktion" zu schicken.

Gestaltung des eigenen Lebens

Anzustreben wäre hingegen, den in nahezu jedem Menschen schlummernden Tatendrang, die Kreativität und das Bedürfnis nach ästhetischer Äußerung, die Lust an der Gestaltung des eigenen Lebens und den Wunsch nach größtmöglichem und ausdifferenziertem Genuss vom ökonomischen Verwertungszwang und von politischer Bevormundung zu befreien und gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, die einen produktiven Müßiggang überhaupt erst ermöglichen würden. Gelänge dies, würde die Menschheit wohl, wie es in Theodor W. Adornos "Minima Moralia" heißt, auch "aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt" lassen, "anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen".