Biodiversität

"Nichtmenschliche Organismen haben keine Lobby"

2. April 2020 von Sarah Nägele
COVID-19 verschafft der Biodiversität eine Atempause, so Stefan Dullinger. Im Interview spricht der Biologe darüber, welche Weichen für die Zukunft jetzt gestellt werden sollten und warum der Dialog mit der Wissenschaft gerade so positiv ist.
Organismen wie den Flechten verschafft die COVID-19-Krise wortwörtlich eine "Verschnaufpause". © Pexels/Vlad Kovriga

Rudolphina: Glauben Sie, dass die durch COVID-19 entstandene Situation zu einer Eindämmung des Artensterbens beitragen könnte?

Stefan Dullinger: Nur sehr eingeschränkt. Was entstehen könnte, ist eine Art Verschnaufpause – gewisse Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Artenvielfalt und Biodiversität sind gerade nicht so stark spürbar. Aber nachdem die COVID-19-Krise vorbei ist, ist zu erwarten, dass alles weiter geht wie zuvor. Dann haben die Arten eine Pause von ein paar Monaten oder vielleicht einem Jahr gehabt, aber das wird den wenigsten nachhaltig etwas bringen. Gewisse Arten mit einem sehr schnellen Lebenszyklus, wie viele Insektenarten, werden die Pause vielleicht nützen können, um etwas größere Populationen aufzubauen, sozusagen eine kleine Reservearmee von Individuen für die kommenden, wieder härteren Zeiten. Aber langfristig positive Effekte würde ich kaum erwarten.

Rudolphina: Können Sie konkretisieren, welche menschlichen Aktivitäten und welche Arten Sie da meinen?

Stefan Dullinger: Was zum Beispiel vielerorts gerade zurückgeht, ist die Luftverschmutzung. Organismen wie etwa viele Arten von Flechten reagieren empfindlich auf verschmutzte Luft und profitieren jetzt. Der Hauptverursacher der Biodiversitätskrise, zumindest am Land, ist aber die land- und forstwirtschaftliche Nutzung. Ich kenne keine Zahlen, aber ich denke nicht, dass die landwirtschaftliche Nutzung derzeit stark zurückgeht, denn essen müssen wir ja trotzdem alle. Für die forstliche Nutzung sieht das vielleicht etwas anders aus, weil die Nachfrage nach dem Rohstoff Holz sinkt, wenn die verarbeitende Industrie still steht. Aber in der Landwirtschaft ändert sich momentan vermutlich nicht viel, das heißt der Druck auf Arten, die durch landwirtschaftliche Nutzung bedroht sind, bleibt.

Rudolphina: Birgt das nicht ein gewisses Risiko für ein neues Ungleichgewicht im Ökosystem, wenn manche Arten sich wieder verbreiten und andere nicht profitieren?

Stefan Dullinger: Ja, natürlich. Jede Verschiebung von Populationsgrößen in einem Ökosystem birgt ein gewisses Risiko, dass sich etwas im Funktionieren von Ökosystemen verändert. Aber ich glaube, dass dieser Zeitraum zu kurz sein wird, um nachhaltige Auswirkungen zu haben. Kurz- bis mittelfristig werden wir, wie gesagt, vielleicht ein Populationswachstum mancher Arten mit kurzen Lebenszyklen sehen. Davon könnten zwischenzeitlich auch langlebigere Organismen profitieren, die sich von Ihnen ernähren. Aber sobald die Gesellschaft zum „Normalzustand“ zurückkehrt, werden sich diese Effekte wohl bald wieder verlieren.

Rudolphina: Glauben Sie, dass der starke Pestizideinsatz in der Landwirtschaft das Aufkommen neuer Viren oder Bakterien fördern kann?

Stefan Dullinger: Ob es direkte Zusammenhänge zum Pestizideinsatz gibt, weiß ich nicht. Es scheint aber so zu sein, dass nicht-menschliche Wirte Viren leichter auf andere Arten übertragen, wenn sie unter Stress stehen, weil der Stress ihr Immunsystem schwächt. Wenn Organismen durch Chemie-Einsatz in der Landwirtschaft unter Stress kommen, kann also eine Übertragung von Viren, unter anderem auf den Menschen, durchaus gefördert werden.

Pflanzen und Tiere versuchen, dem Klimawandel durch Rückzug in kühlere Lebensräume auszuweichen. Aber was machen Gebirgspflanzen, die schon heute in den höchsten alpinen und nivalen Lagen wachsen? Um die Mikrodynamik von Gebirgspflanzen im Klimawandel zu erforschen, hat Ökologe Stefan Dullinger gemeinsam mit seinem Team einen ERC Advanced Grant über 2,5 Millionen Euro von der EU erhalten.

Rudolphina: Manche Wissenschafter*innen glauben, dass die Umweltveränderungen durch den Menschen, zum Beispiel die Nutzung der Regenwälder, der Grund für vermehrte Infektionen von Tieren sein könnten, weil die Tiere durch die Zerstörung des Regenwaldes zum Beispiel auf engerem Raum leben. Was halten Sie davon?

Stefan Dullinger: Das ist plausibel. Wenn die Individuen geschwächt sind durch diversen anderen Druck, wie zum Beispiel Lebensraumverlust oder Verringerung der Lebensraumqualität, dann werden sie genau wie Menschen anfälliger für Pathogene. Die Übertragung von COVID-19 ist vermutlich durch den Stress, den Lebensraumzerstörung bei Fledermäusen verursacht, gefördert worden.

Rudolphina: Welche langfristigen Auswirkungen können Sie sich auf die Biodiversität im Zusammenhang mit COVID-19 vorstellen?

Stefan Dullinger: Ich erwarte mir wie gesagt keine langfristigen Auswirkungen. Ich fürchte sogar, dass die länger- und mittelfristigen Auswirkungen negativ sein könnten, weil das Ankurbeln der Wirtschaft nach der Krise vermutlich im Vordergrund steht: "Wir müssen alles tun, um unseren Wohlstand und Konsum wieder auf das frühere Niveau zu heben und daher haben wir kein Geld, um uns um Dinge wie Klimawandel oder Biodiversität zu kümmern." Ich fürchte, dass die Investitionen in die Richtung darunter leiden könnten. Die Lastenaufteilung in der Krise wird die Schwächsten wieder stärker treffen und die Allerschwächsten sind immer die nichtmenschlichen Organismen, denn die haben überhaupt keine Lobby. Auf der anderen Seite birgt die Situation gewisse Chancen, weil man jetzt sieht, wie groß die Handlungsbereitschaft ist, wenn man eine Krise als solche identifiziert. Da sind auf einmal Dinge möglich, von denen man vor ein paar Wochen nichts hätte träumen lassen. Das Problem ist, dass die Menschen eine Krise nur als solche erkennen, wenn sie eine unmittelbare Bedrohung in ihrem Lebensumfeld darstellt. Das ist beim Artensterben und Klimawandel aber nur sehr eingeschränkt der Fall. Aber vielleicht trägt COVID-19 ein bisschen zum Umdenken diesbezüglich bei. Eine Pause ist immer gut, weil es ist schwierig, Gewohnheiten, die zuvor festgefahren waren, von einem Tag auf den anderen zu ändern. Jetzt müssen wir viele nicht nachhaltige Gewohnheiten in unserem Konsum und unserem allgemeinen Verhalten zwangsläufig ändern und haben damit die Chance, sie auch langfristig ein bisschen zu adaptieren.

Rudolphina: Welche Weichen müssten für diese nachhaltigen Veränderungen jetzt gestellt werden?

Stefan Dullinger: Da gibt es viele Möglichkeiten. Sehr naheliegend, wenn wir von Biodiversität reden, ist zum Beispiel ein Neudenken in der Landwirtschaft. Über die GAP-Förderungen wurde bereits viel diskutiert. Eine Kritik lautet, dass diese hauptsächlich Mengenproduktion, Flächen, Größe und konventionelle Landwirtschaft fördern und dass die ökologische und biologische Landwirtschaft viel zu wenig bekommt. Da geht es um viele Milliarden Euro in der EU, die man einfach umschichten müsste. Im Zusammenhang damit müsste man prinzipiell diskutieren, dass Landwirt*innen natürlich nicht die Sündenböcke sind, denn sie bewegen sich innerhalb des Handlungsspielraums, der ihnen die Politik lässt. Wenn man ökologische oder biodiversitätsschonende Landwirtschaft durch staatliche Förderungen so attraktiv macht, dass sie sich für Landwirt*innen mehr lohnt als konventionelle Produktionsformen, dann werden viele umsteigen. Da muss man wesentlich weniger Geld als für die Bekämpfung der COVID-19-Krise in die Hand nehmen, und kann sehr große Effekte erzielen. Der ganze Individualverkehr ist auch ein Punkt: Können wir uns vielleicht doch abgewöhnen, für ein Wochenende nach London, Paris oder Tel Aviv in den Urlaub zu fliegen? Es braucht ein Umdenken in den Köpfen der Individuen, aber natürlich und vor allem auch geänderte politische Vorgaben – in welchem Ausmaß das möglich ist und bei erkannter Gefahr auch akzeptiert wird, zeigt die aktuelle Krise eindrucksvoll.

Rudolphina: Die nichtmenschlichen Organismen wird es am Härtesten treffen, weil die keine Lobby haben, haben Sie gesagt. Ganz stimmt das ja nicht: Sie sind ja als Biodiversitätsforscher quasi die Lobby. In den letzten Wochen wird sehr gelobt, dass Medien und Politik mehr auf die Wissenschaft hören. Sehen Sie die positiven Entwicklungen auch?

Stefan Dullinger: Ja, das sieht man in diesem sehr engen Feld der Bekämpfung der COVID-19-Krise auf jeden Fall. Das finde ich auch sehr positiv. Die Politik muss die Entscheidungen treffen, aber dass sie das auf der Basis von seriöser Information tut, ist sehr begrüßenswert. Natürlich gibt es unter den Wissenschafter*innen unterschiedliche Meinungen, nicht jeder sieht die Bedrohung durch COVID-19 gleich, und nicht jeder empfiehlt die gleichen Maßnahmen. Aber ich habe den Eindruck, dass die meisten Regierungen tatsächlich auf der Basis von wissenschaftlichen Grundlagen agieren. Es wäre sehr wünschenswert, dass das in anderen Bereichen in Zukunft auch der Fall ist. Wenn die Politik in Fragen von Klimawandel, Biodiversität, und Artensterben in den letzten Jahren in ähnlicher Weise auf die Wissenschaft gehört hätte, dann wäre die Situation in diesen Bereichen heute auch eine andere.

Rudolphina: Danke für das Gespräch! (sn)

© Katharina Rossboth
© Katharina Rossboth
Stefan Dullinger ist seit 2012 Professor für Vegetation Science an der Universität Wien, wo er 2003 auch promoviert und sich 2006 habilitiert hat. Er forscht zu räumlichen Biodiversitätsmustern und ihrer zeitlichen Veränderung.

Zwischen 2004 und 2012 war er Gründungsmitglied und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Vienna Institute for Nature Conservation & Analysis, von 2008 bis 2012 außerdem Universitätsassistent an der Universität Wien. Seit seiner Promotion stehen mögliche Auswirkungen des Klimawandels auf die Biodiversität von Gebirgslebensräumen im Fokus seiner Forschungsarbeit, dieses Thema behandelt er aktuell in einem ERC-Projekt.