Sommerpost: Auf den Spuren der ältesten Steinarchitektur Österreichs

Archäologin Alexandra Krenn-Leeb erforschte gemeinsam mit Studierenden des Instituts für Urgeschichte und Historische Archäologie eine der seltenen Befestigungsanlagen der Ratzersdorf bei Wölbling. Keramische Fragmente und Steinklingen: Funde weisen auf eine länger währende Besiedlung der Anlage hin.

uni:view:  Warum ist diese Forschungstätigkeit wichtig? Was ist das Ziel?
Alexandra Krenn-Leeb: Die Lehrgrabung repräsentiert für mich eines der probatesten Beispiele für forschungsgeleitete Lehre. Die Forschungsgrabung als archäologische Grundlagenforschung zur Erschließung neuer Quellen wird zum Lehrformat. Im Rahmen der Lehrgrabung werden zwölf Studierende in die archäologische Feldforschung eingeführt und mit den Herausforderungen einer Grabung konfrontiert. Sie erlernen und vertiefen die grundlegenden Prinzipien und in Teamarbeit werden die archäologisch wichtigen Methoden geübt: Befunderkennung, Vermessung, Dokumentation, Schichtabtragung und Probenentnahme. In der Folge werden auch die interdisziplinären Methoden der Nachbarwissenschaften nach Bedarf erläutert (z. B. heuer die geophysikalische Prospektion mit Geomagnetik und Bodenradar). Weiters werden die Verwaltung und Nachbereitung der Fund- und Datenmaterialien sowie die Anforderungen hinsichtlich Grabungsmanagement, Administration und der Personal- sowie Teamführung vermittelt.

uni:view: Können Sie die Ausgrabungsstätte beschreiben?
Krenn-Leeb: Im Rahmen meiner Studien zu frühbronzezeitlichen Identitätengemeinschaften im mittleren Donauraum bin ich auf das Wölblinger Becken als prähistorisch besonders attraktive Siedlungskammer gestoßen. Die Geländekuppe umfasst eine innere Plateaufläche von ca. drei Hektar, die in der Frühbronzezeit besiedelt war. An drei Seiten wird die Anlage von tief eingeschnittenen Bachläufen und steil abfallenden Hängen naturräumlich begrenzt. An der nördlichen, leicht zugänglichen Seite stellten fünf Wälle und Gräben Annäherungshindernisse dar – günstige Voraussetzungen für die Errichtung eines geschützten Zentralortes. Sie ist die früheste Burg mit einer wirtschaftlichen und politischen Zentralortfunktion in der Siedlungskammer Wölblinger Becken. Untermauert wird dies unter anderem durch den Nachweis der bisher ältesten Steinarchitektur Österreichs!

Die hellen mächtigen Steinplatten aus Granulit verfehlten gewiss nicht ihre Wirkung hinsichtlich Repräsentation und Machtfülle. Bemerkenswert sind zahlreiche Kiesel und abgerundete Steine inmitten des Mauerversturzes. Sie belegen mit hoher Wahrscheinlichkeit Schleudersteine, die als Distanzwaffen in dem vernichtenden Kampfgeschehen zum Einsatz kamen. Weiters konnte durch die Grabungen ein massives Brandereignis dokumentiert werden.

Vom 02.07. bis zum 09.08.2019 leitete Alexandra Krenn-Leeb eine Lehr- und Forschungsgrabung in Ratzersdorf bei Wölbling in Niederösterreich im Rahmen einer Lehrveranstaltung für Studierende des Instituts für Urgeschichte und Historische Archäologie.

uni:view: Welcher Gegenstand darf dafür im Reisegepäck nicht fehlen?
Krenn-Leeb: Mein Fotoapparat begleitet mich praktisch täglich auf meiner archäologischen Spurensuche. Er repräsentiert meine ständige Dokumentationsbereitschaft und bildet sowohl die materiellen Hinterlassenschaften, die archäologischen Befundkontexte als auch die Forschenden ab. Diese Momentaufnahmen sind Bestandteil meines und des projektbezogenen Gedächtnisspeichers und unterstützen damit laufend die Forschungen.

uni:view: Wie sieht ein typischer Tag auf der Grabung aus?
Krenn-Leeb: Um 07:30 Uhr begrüße ich gemeinsam mit meinem örtlichen Grabungsleiter Ronny Weßling sowie der Tutorin und Dokumentationsbeauftragten Doris Jetzinger die TeilnehmerInnen auf der Fundstelle, die sich inmitten eines ausgedehnten Waldgebietes befindet. Die benötigten Fein- und Grobwerkzeuge sowie Geräte – wie etwa Tachymat, Kellen, Staubsauger und Dokumentationsutensilien – werden zur Grabungsstelle geschafft. Ein Stromerzeuger versorgt die gesamte Grabung, sodass sowohl die Staubsauger auf den Grabungsflächen als auch die Laptops samt Drucker im Grabungscontainer laufend einsatzbereit sind.

Die zwölf TeilnehmerInnen der Lehrgrabungen – hier sind stets AnfängerInnen mit Fortgeschrittenen in Teams vereint (Mentoringprinzip) – werden von PraktikantInnen und VolontärInnen begleitet. Die Stammteams führen laufend die Arbeitsanleitungen durch und schulen die einzelnen Teammitglieder theoretisch und methodisch ein. Besonderes Augenmerk wird von mir auf Arbeitssicherheit und Sozialkompetenz gelegt, da eine archäologische Grabung nur im Team funktionieren kann. Die logistischen und infrastrukturellen Herausforderungen – völlig autark in der Natur auf höchstem wissenschaftlichem Niveau forschen zu können – fördert die Kreativität der Studierenden. Somit ist der Grabung stets auch ein Expeditionscharakter eigen. Am Ende des Arbeitstages findet stets eine Feedback-Runde mit dem gesamten Grabungsteam statt.

uni:view: Warum ist eine Grabung mit Studierenden auch für die Leiterin bereichernd?
Krenn-Leeb: Aktiv an einem konkreten Forschungsvorhaben mitwirken zu können, begeistert stets alle Studierenden. Daher sind das Commitment und die Empathie enorm hoch. Der tägliche Arbeitsfortschritt ist sichtbar und kann gut vermittelt werden. Aufgrund der körperlich und geistig anspruchsvollen Tätigkeitsbereiche werden die eigenen physischen und psychischen Grenzen erfahrbar. Wir als Stammteam begleiten die Studierenden intensiv in dieser Erfahrungsphase. Mich persönlich freut es besonders, miterleben zu dürfen, wie vor allem junge Studierende in nur wenigen Wochen einen spürbaren Reifungsprozess erfahren. Auch ist es eine Freude, in welcher Qualität sich Altersunterschiede zwischen den Studierenden positiv nivellieren und relativieren.

uni:view:  Was war ein besonderer Moment auf Ihrer Grabung?
Krenn-Leeb: Die Spannung, durch eine wichtige Beobachtung einen neuen Blickwinkel auf einen lange vor unserer Zeit konservierten Befundkontext zu erlangen, treibt uns an. So hat es mehrere besondere Momente im Verlauf dieser Grabungskampagne gegeben: Die Entdeckung der Schleudersteine sowie derSteinkonstruktion beim zweiten Befestigungsgraben  lassen die Anlage hinsichtlich ihrer ursprünglichen Bedeutung in einem neuen Licht erscheinen. Der Fund einer immer noch aktiven Wasserquelle im zweiten Befestigungsgraben liefert ein neues wichtiges Detail zur Gesamtkonstruktion der Anlage. Oder aber die 250 Gäste, die uns am Tag der Offenen Grabung besuchten – das enorme Interesse bestärkte uns in unserem kulturvermittelndem Bemühen, auch einer breiten Öffentlichkeit die archäologische Spurensuche näherzubringen.

Alexandra Krenn-Leeb ist Archäologin am Institut für Urgeschichte und Historische Archäologie der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind das Neolithikum, die Kupfer- und Bronzezeit mit dem Fokus auf sozialarchäologische Themen. Von 1999 bis 2017 untersuchte sie die international bekannte kupferzeitliche Siedlung in Höhenlage am Kleinen Anzingerberg.