Soziale Distanz – das falsche Wording!

Frua sitzt mit Hund am Seeufer bei Sonnenuntergang, von hinten fotografiert

In der Corona Berichterstattung dominiert derzeit der Begriff der "Sozialen Distanz". In seinem Gastbeitrag erklärt der Jurist Wolfgang Mazal von der Universität Wien, warum wir das Wording wechseln und nicht von "social distancing", sondern vielmehr von "physical distancing" sprechen sollten.

"Social distancing" ist eine Wendung der Fachsprache unter anderem der Epidemiologie, die in den letzten Tagen in die öffentliche Debatte Eingang gefunden hat; allerdings wäre da semantisch mehr Sorgfalt geboten, weil in der Fachsprache andere gedankliche Assoziationen ablaufen als in der Alltagssprache. Stimmt es wirklich, dass "social distancing" das Gebot der Stunde ist, um katastrophale Bilder, wie wir sie aus Italien und Spanien sehen, in Österreich nicht Realität werden. 

Gedankliches Zusammenrücken

Fest steht jedenfalls, dass vor dem Hintergrund des lateinischen Wortstamms "soc", der "Verbundenheit" signalisiert, eher das Gegenteil von sozialer Distanz zu beobachten ist: Familien, Freund*innen, Kolleg*innen, fühlen sich in den letzten Tagen stärker denn je für einander verantwortlich und rücken gedanklich immer näher zusammen. Mit Bewunderung fühlen wir uns den "Held*innen" in den medizinischen Berufen und in der Pflege verbunden; es werden lang vergessene Telefonnummern gewählt, um Gespräche zu führen; Polizist*innen fördern das Gemeinschaftsgefühl mit dem Abspielen der heimlichen Nationalhymne "I am from Austria"; Enkel*innen sorgen sich um Großeltern; Kolleg*innen unterstützen einander bei Problemen im Home Office; Lehrer*innen und Hochschullehrer*innen werden im distant-teaching kreativ, um beim home-learning zu begleiten.

Ursache für diese wachsende Verbundenheit ist nicht die soziale, sondern die physische Distanz: Typischerweise wächst ja im Menschen durch physische Distanz der Wunsch nach sozialer Nähe!

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Physical distancing

Ich finde daher, wir sollten das Wording wechseln und ab nun eher von "physical distancing" sprechen. Diese Wendung trifft die tatsächlichen Gegebenheiten besser und ist auch zukunftsfester: Gerade in den auf uns zukommenden Monaten wäre es nämlich fatal, wenn sich die Denkfigur von der sozialen Distanz im Denken eingenistet hat, selbst wenn physische Nähe wieder möglich sein wird! In der Bewältigung der medizinischen und ökonomischen Folgen der aktuellen Krise werden wir wohl alle auf soziale Nähe angewiesen sein! Soziale Distanzierung zu fordern, klingt da wirklich ungut!

Dieser Text basiert auf einer Kolumne des Autors in der Wochenzeitschrift Die Furche vom 26.3.2020, die unter dem Titel "Soziale Distanz? Falsch!" publiziert wurde.

Wolfgang Mazal ist Vorstand des Instituts für Arbeits- und Sozialrecht der Universität Wien und Leiter des Österreichischen Instituts für Familienforschung an der Universität Wien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt u.a. Medizinrecht. (© Wolfgang Mazal)