Sprache wirkt

Erzählungen aus der Vergangenheit, Vorbilder für die Zukunft

9. November 2020 von Theresa Dirtl
Susanne Bock, die in diesem Jahr ihren hundertsten Geburtstag feierte, schloss 1993 bei Uni Wien-Sprachwissenschafterin Ruth Wodak ihr Studium mit dem Doktorat ab und trat danach immer wieder als Zeitzeugin der Nazizeit auf. Im Gespräch erzählt sie, wie sie sich den Traum des Studiums erfüllte.
Die Analyse des Diskurses deckt die Konstruktionen sozialer Wirklichkeiten in der Kommunikation auf – so Uni Wien Sprachwissenschafterin Ruth Wodak und Absolventin Susanne Bock über die Wirkung von Sprache. © Gerhard Schmolke

Rudolphina: Frau Bock, heuer feierten Sie Ihren 100. Geburtstag und blicken auf ein äußerst bewegtes Leben zurück. Dazu zählt unter anderem ein Studium der Sprachwissenschaft an der Universität Wien nach Ihrer Pensionierung. Was waren Ihre Beweggründe dafür?

Susanne Bock: Meine Pensionierung gab mir die Möglichkeit, einen dritten Versuch für ein Universitätsstudium zu starten. Das erste Mal 1938 in Wien konnte ich aus religiösen Gründen nicht inskribieren. Das zweite Mal befand ich mich als Emigrantin in England. Als ich mein Studium an der Oxford University begann, brach der Krieg aus und ich musste es aufgeben. Professor Wolfgang Dressler, damals noch neu an der Universität Wien, riet mir in den 1970ern zu einem Studium der Sprachwissenschaft – ich hatte Kenntnisse aus unterschiedlichen Sprachen und ein Verständnis dafür, wie Sprache funktioniert. So habe ich dann tatsächlich angefangen zu studieren! Am Anfang bin ich mir äußerst fremd vorgekommen. Nach und nach habe ich mich in den Institutsbetrieb eingefügt und es haben sich nette Freundschaften entwickelt.

Rudolphina: Frau Wodak, wie haben Sie Frau Bock in Ihrer Studienzeit erlebt?

Ruth Wodak: Frau Bock kam mir schon bei der ersten Begegnung bekannt vor, vor allem aufgrund der ähnlichen Biographie meiner Eltern, die genauso Flüchtlinge in England gewesen waren. Außerdem hat es mich berührt, dass sie ihren Lebenstraum verspätet erfüllen wollte. Es hat mich gefreut, dass ich ihr dabei helfen konnte. Sie hat sich in die Community am Institut gut integriert, war überall dabei und hat sogar bei den Institutspartys Buchteln mit Vanillesauce mitgebracht. Susi Bock war eine Musterstudentin. Aufgrund ihrer Erfahrung und ihres Alters hat sie natürlich ganz andere Fragen gestellt als die jungen Studierenden. Sie war eine absolute Bereicherung.

Susanne Bock: Das Studium hat mir eigentlich keine großen Schwierigkeiten bereitet, ich wäre mit dem Magister auch zufrieden gewesen. Aber eine aktive junge Person, die jetzt hier neben mir sitzt (schmunzelt) stand hinter mir und hat mich angetrieben.

Ruth Wodak: Das Dissertationsprojekt war einfach toll. Susi Bock beschäftigte sich mit psychotherapeutischer Kommunikation und hat den Gebrauch von Metaphern im therapeutischen Gespräch und deren Bedeutung analysiert, was damals in der Linguistik ganz neu war. Besonders imponiert hat mir, dass Susi Bock nach ihrer Dissertation begonnen hat, Bücher zu schreiben und als Zeitzeugin aufgetreten ist. Ich war einfach maßlos stolz auf meine ehemalige Studentin. Und habe mich für sie so gefreut.

Wie wirkt Sprache?

"Diskurse sind in einem gesellschaftlichen, sozialen wie auch materiellen Kontext verortet. Zugleich konstruiert der Diskurs die gesellschaftliche Realität, auf die er sich bezieht, und transformiert sie dabei auch unweigerlich. Dies gilt natürlich auch für historische kollektive wie individuelle Erinnerungen, für identitätsstiftende und -prägende Narrative, für Vergangenes, Gegenwärtiges und auch Zukünftiges", so Wodak. 

"Die Analyse des Diskurses deckt die Konstruktionen sozialer Wirklichkeiten in der Kommunikation auf. Sie ermöglicht aber immer auch die Analyse von Machtpositionen und Machtverschiebungen. Nicht alle sozialen Akteur*innen besitzen dieselbe (Macht)Position im Diskurs; daher haben sie auch unterschiedlichen Zugang zu einem konkreten Diskurs, woraus sich unterschiedliche Möglichkeiten der Teilhabe ergeben." 

Susanne Bock: Etwas Schöneres kann man von einer Lehrerin nicht hören. (lacht) Das autobiografische Buch, das ich im Anschluss an mein Studium geschrieben habe, wird heute noch gelesen. Meine Bücher – mein zweites beschreibt die Zeit nach meiner Rückkehr nach Wien – waren immer wieder Grundlage von Vorträgen, die ich vor einem sehr interessierten, zumeist jungen, Publikum halten durfte.

Ruth Wodak: Deine Vorträge als Zeitzeugin waren unglaublich wichtig. Meinem Eindruck nach hat dir das Studium eine Stimme mit Autorität gegeben – mit dem Wissen und der Erfahrung des Studiums einerseits und Deiner Lebenserfahrung andererseits. Diese ganz einzigartige Kombination hat Deine Vorbildwirkung ausgemacht.

Susanne Bock: Ich muss allerdings gestehen, dass mir die Wiederaufbereitung nun mit 100 Jahren schon etwas Mühe macht. Es ist nicht mehr so einfach wie mit 80 oder 85 Jahren. Da war ich noch jung (lacht).

Rudolphina Herzlichen Dank für das Gespräch! (td)

Susanne Bock wurde 1920 in Wien geboren. Als 18-jährige erlebte sie 1938 den "Anschluss" Österreichs an Nazideutschland. Da sie aus einem sogenannten assimilierten jüdischen Elternhaus stammt, konnte sie nicht wie geplant an der Universität Wien inskribieren, sondern musste flüchten.

 In England arbeitete sie u.a. als Krankenschwester, Näherin, Köchin, chem. Laborantin u.v.m.; nach ihrer Rückkehr nach Wien im Jahr 1946 war sie u.a. als Lektorin bei der britischen Nachrichtenagentur tätig. Nach ihrer Pensionierung 1977, erfüllte sie sich ihren Traum und inskribierte im Jahr 1978 Sprachwissenschaften an der Uni Wien, wo sie 1993 bei Ruth Wodak dissertierte. Danach schrieb Susanne Bock zwei autobiografische Bücher und trat immer wieder als Zeitzeugin auf.

Ruth Wodak , 1950 in London geboren, ist eine österreichische Sprachsoziologin und Diskursforscherin und emeritierte Professorin für Angewandte Sprachwissenschaft der Universität Wien und der Lancaster University.

Wodak hat sich besonders mit Identitätspolitik, mit Kommunikation in Institutionen und politischer Kommunikation wie auch Vorurteilsforschung beschäftigt. Im Laufe ihrer Karriere erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter der Wittgenstein-Preis (1996), der Wiener Frauenpreis (2006), das Große Silberne Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst der Republik Österreich (2011) wie auch den Lebenswerkpreis (2018). Sie besitzt zwei Ehrendoktorate (Univ. Örebro, 2010, und Univ. Warwick, 2020) und ist seit 2020 Ehrensenatorin an der Universität Wien.