Traumatisierung der Jezidinnen setzt sich fort

2014-15 gingen Nachrichten über Vergewaltigungen jezidischer Frauen im Zuge der IS-Angriffe auf jezidische Stammesgebiete um die Welt. Was nun mit den Frauen und ihren Kindern aus diesen Vergewaltigungen geschieht, fragt Religionswissenschafter Wolfram Reiss im Gastbeitrag.

Rund 6.500 Menschen wurden in den Jahren 2014 und 2015 entführt, bei etwa 3.000 davon ist bis heute unklar, welches Schicksal sie erlitten haben. Die Zurückdrängung des "Islamischen Staates" sowie die Befreiung zahlreicher Frauen aus der Sklaverei sind zwar erfreuliche Nachrichten und haben theoretisch die Rückkehr der traumatisierten Menschen möglich gemacht.

Allerdings ist das Drama noch lange nicht zu Ende, denn ihre Rückkehr wirft große religionsrechtliche, soziale und persönliche Fragen auf und führt zu einer weiteren Tragödie innerhalb der jezidischen Gemeinschaft: Frauen, die befreit wurden, können nämlich nicht einfach in ihre Gemeinschaft zurückkehren, denn der Geschlechtsverkehr mit Nicht-Jeziden gilt als große Schande. Dies hat normalerweise den Ausschluss aus der jezidischen Gemeinschaft und oftmals eine Ermordung durch die eigene Familie zur Folge ("Ehrenmord").

Nur die jezidischen Frauen und Kinder von jezidischen Eltern

Insoweit schien es eine bahnbrechende historische Entscheidung, dass am 24. April 2019 der "Oberste Spirituelle Rat der Jeziden" im Hinblick auf die überlebenden Frauen und ihre Kinder in einer Art Fatwa entschied, dass alle, die gegen ihren Willen von Da'isch-Kämpfern festgehalten wurden, wieder von der jezidischen Gemeinschaft aufgenommen werden sollen. Einige interpretierten dies dahingehend, dass damit auch die Kinder gemeint seien, die aus Vergewaltigungen hervorgingen bzw. in der Sklaverei geboren wurden. Hierüber gab es jedoch sofort große Diskussionen.

Religiöse Vertreter, Stammesführer und Dorfälteste liefen gegen eine solche weite Interpretation Sturm, so dass nur wenige Tage später der Oberste Rat in einer weiteren Stellungnahme klarstellte, dass in der Fatwa keineswegs die Kinder gemeint seien, die von muslimischen Da'isch-Kämpfern stammen. Nur alle jezidischen Frauen und jezidischen Kinder, die 2014 in die Sklaverei entführt worden seien, könne man wiederaufnehmen – wobei auch das bei nicht wenigen schwierig werden dürfte, weil sie in Familien von MuslimInnen aufgezogen wurden, die sie zum Hass auf die jezidische Gemeinschaft erzogen bzw. sogar zu Kindersoldaten ausbildeten. Kinder, die von Muslimen gezeugt wurden, könnten jedenfalls niemals in die jezidische Gemeinschaft aufgenommen werden, weil dies gegen Grundprinzipien der Religion verstoße.

Religion und Kultur der JezidInnen
Die JezidInnen sind eine Ethnie mit einer speziellen Religion, die verschiedene Elemente aus dem Zoroastrismus, Manichäismus, Islam und Christentum aufgenommen hat, sich jedoch als älteste Religion der Menschheit versteht. Historisch greifbar ist die Religion erst ab dem 12. Jh. Ihre Hauptsiedlungsgebiete liegen im Bereich der Region, in denen KurdInnen leben, d.h. in den Grenzregionen der Türkei, Syriens, des Iraks, Armeniens und Georgiens. In ihre Religion, die nur mündlich überliefert wird, ist es nicht möglich einzutreten. Es darf nur innerhalb der jezidischen Gemeinschaft und möglichst innerhalb der gleichen Sippe geheiratet werden.

In den Händen der Frauen

Ende April 2019 erhob auch die jezidische Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad zu dieser Angelegenheit ihre Stimme in einem Video, das auf Facebook gepostet wurde. Sie meinte darin, dass die Entscheidung über die Rückkehr oder Nicht-Rückkehr alleine in die Hände der Frauen und ihrer Familien gelegt werden müsse, und keine religiöse oder staatliche Organisation dürfe darüber befinden. Wenn Frauen sich entscheiden, sich nicht von ihren durch Vergewaltigung entstandenen Kindern trennen zu wollen, so müsse das von der jezidischen Gemeinschaft akzeptiert werden und sie müssten Unterstützung bekommen.

Wenn sie sich hingegen entscheiden, alleine zurückzukehren, so müsste sich die internationale Gemeinschaft dieser Kinder annehmen. Und wenn sie sich entscheiden, bei den Kindern zu bleiben und nicht mehr in ihre Gemeinschaft zurückzukehren, so müsste ebenso die internationale Gemeinschaft diesen Frauen und ihren Kindern helfen. Die UN, internationale Organisationen und Staaten dürften sich ihrer Verantwortung jedenfalls nicht entziehen. Hintergrund dieser Aufforderung ist, dass offenbar Hilfsorganisationen sich bereits geweigert haben, sich um diese Fälle zu kümmern, weil ja Eltern vorhanden sind und prinzipiell die Möglichkeit gegeben ist, dass die Kinder zu ihren Familien zurückkehren.

Die Traumatisierung setzt sich fort

Zum anderen besteht auch von islamisch-rechtlicher und staatlicher Seite ein Problem, denn als Kinder von Muslimen gelten sie nach irakischem und islamischem Recht automatisch als MuslimInnen. Die Vormundschaft für sie müsste spätestens nach der Entwöhnung an MuslimInnen übertragen werden.

Aber auch wenn sich Frauen dafür entscheiden, nicht in ihre jezidische Gemeinschaft zurückzukehren und gemeinsam mit ihren Kindern ein neues Leben in einem anderen gesellschaftlichen Kontext beginnen wollen, so ist keineswegs garantiert, dass humanitäre Organisationen und Staaten bereit sind, diese Frauen und Kinder aufzunehmen und ihnen zu helfen. Die Traumatisierung der Jezidinnen setzt sich insoweit fort. Sie wird auch europäische Staaten spätestens dann erreichen, wenn solche Frauen mit ihren Kindern in den Westen kommen und der Hilfe bei der Integration und bei der Bewältigung ihrer Traumata bedürfen. Wer könnte sich aber mit gutem Gewissen dieser Verantwortung gegenüber Menschen entziehen, die ein solches Leid durchmachen mussten?

Wolfram Reiss ist (seit 2007) Professor für Religionswissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät. Sein Schwerpunkt sind die Religionen des Nahen Ostens. Insbesondere beschäftigt er sich mit aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen, Bildung und Diversität sowie mit religiöser und gesellschaftlicher Pluralität im Nahen Osten und in Europa.