Zwischen den Geschlechtern

Ist es ein Junge oder ein Mädchen? Diese Frage spielt bei der Geburt zuallererst eine Rolle. Die Erkenntnis, dass mit dem Phänomen des Hermaphroditismus auch weitere biologische Geschlechter möglich sind, ist im Alltagsdenken vieler Menschen kaum präsent. Bis jetzt existiert Intersexualität nur als Randerscheinung in unserer Gesellschaft. Welche Auswirkungen diese Diagnose für Individuen haben kann und welche Lösungsvorschläge in der modernen Literatur angeboten werden, untersuchen Susanne Hochreiter und Angelika Baier vom Institut für Germanistik seit Jänner 2011 in einem FWF-Projekt.

Treffen wir eine unbekannte Person, versuchen wir auf der Stelle, sie in unseren Erfahrungshorizont einzuordnen. Die in unserer Gesellschaft tief verankerte binäre Geschlechterauffassung verleitet uns dazu, anhand bekannter, typischer Merkmale einzustufen, mit welchem Geschlecht wir es zu tun haben. Schätzungen gehen von 2.000 bis 8.000 intersexuell geborenen Menschen in Österreich aus, offizielle Statistiken existieren nicht. In dem FWF-Projekt "Diskursverhandlungen in Literatur über Hermaphroditismus" geben Leiterin Susanne Hochreiter und Mitarbeiterin Angelika Baier vom Institut für Germanistik einen literarischen Einblick über diese vielschichtige Thematik.

Mit narratologischen Ansätzen zu neuen Perspektiven


"In unserem Projekt analysieren wir die unterschiedlichen Zugangsweisen zu Intersexualität in zeitgenössischen literarischen Werken im Zeitraum von 1990 bis 2010", so Baier. "Besonders interessiert uns, wie der intersexuelle Körper dargestellt wird und wie Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung in den Werken verhandelt werden." Mit Hilfe narratologischer Ansätze erforschen die Wissenschafterinnen die Thematik besonders im Hinblick auf Erzählmuster, wobei der Frage nachgegangen wird, welche Rolle die intersexuellen Figuren innerhalb der narrativen Struktur der Texte spielen.

"Betroffene sind häufig einem enormen gesellschaftlichen Druck ausgesetzt, sich trotz Uneindeutigkeit für eines der Geschlechter entscheiden zu müssen. Uns interessieren die Handlungsmöglichkeiten, die die Charaktere sich erarbeiten", erklärt die Germanistin. Ein besonderes Charakteristikum der untersuchten Literatur ist die individuelle und alltägliche Perspektive auf die Diagnose, die in den Romanen zu finden ist. "Bisher wurde das Phänomen eher auf medizinischer Ebene oder in poststrukturalistischen Theorien der Gender Studies beleuchtet."

Was verbinden Sie mit dem Internationalen Frauentag?

Angelika Baier: Zwar gibt es bereits Ansätze zur Veränderung innerhalb der westlichen Politik und Gesellschaft, trotzdem ist das Geschlechtersystem immer noch sehr stark hierarchisiert. Der Diskurs, dass bestimmte Wertigkeiten dem einen oder anderem Geschlecht zugeschrieben werden, ist immer noch aktuell, daher ist auch der Frauentag aktuell.

Leider ist man de facto noch weit davon entfernt, gleiche Chancen oder z.B. die Forderung nach gleicher Bezahlung flächendeckend umzusetzen. Es scheint dabei insbesondere vonnöten zu sein, über die unablässig geführten Diskussionen über geschlechtliche Ungerechtigkeiten in anderen Kulturen und Ländern nicht den Blick auf die Umstände im eigenen Land zu vergessen.


Kritik an Pathologisierung von Hermaphroditismus


Der Hauptfokus der Analyse liegt auf Romanen unterschiedlicher Genres und Qualität. "Wir erheben neben ästhetisch komplex strukturierter Belletristik auch so genannte Middlebrow-Literatur wie z.B. Kriminalromane. Im Rahmen des Projekts sollen deutschsprachige Texte und Texte aus einem internationalen Umfeld gesammelt und einer detaillierten Analyse unterzogen werden."
Bereits jetzt kristallisieren sich inhaltliche Überschneidungen zwischen den einzelnen Werken heraus. Viele literarische Positionen kritisieren vor allem die Pathologisierung von Intersexualität als Krankheit. "Während in der Antike der Begriff des Hermaphroditen als mythisches Symbol für Harmonie und göttliche Vollkommenheit galt, wird Intersexualität heute als medizinisches Störungssyndrom der embryonalen Entwicklung definiert", deutet Baier.

Intersexualität stellt binäre Geschlechterdichotomie infrage

Aber auch in der Antike war klar festgeschrieben, was männlich und was weiblich ist. "Der antike Hermaphrodit vereinte lediglich männliche und weibliche Teile zu einem harmonischen Ganzen und stellte ein Ideal für den gespaltenen Menschen dar, der stets nur eine Seite leben konnte und nach seiner verlorenen Hälfte suchte", erklärt die Forscherin. "Heute gehen besonders poststrukturalistische Perspektiven davon aus, dass Hermaphroditismus als vermeintliche 'Anomalie' des menschlichen Körpers das heteronormative Gesellschaftsbild infrage stellt."

Solche theoretischen Überlegungen spielen in den Gedanken und Handlungen der literarischen Charaktere meist nur eine untergeordnete Rolle: Sie sehen sich meist mit viel konkreteren Problemen konfrontiert. "In fast allen Fällen werden chirurgische 'Korrekturmaßnahmen' abgelehnt, der Wunsch zurück zu einem 'natürlichen Urzustand' des Körpers wird deutlich", sagt die Germanistin. Dies wird zum Beispiel in dem Buch 'Mitgift' der deutschen Autorin Ulrike Draesner deutlich.

Was verbinden Sie mit dem Internationalen Frauentag?

Susanne Hochreiter: Mit dem Frauentag verbinde ich einerseits die Erinnerung an Pionierinnen der Frauenbewegung, die oft unter Einsatz ihrer Existenz für die Rechte von Frauen eingetreten sind. Der Frauentag symbolisiert zudem die Internationalität dieser Bewegung von Anfang an bis in die Gegenwart. Andererseits erinnert der Frauentag daran, was erreicht wurde und was noch aussteht.

Zur 100. Wiederkehr dieses Tags müssen wir heute mehr denn je erkennen, dass sich die Strukturen kaum verändert haben, dass mit einer ungeheuren Selbstverständlichkeit Frauen (Karriere-)Wege versperrt werden, dass sie ausgebeutet werden, Gewalt ausgesetzt sind und geringeren Zugang zu Ressourcen haben. Der Frauentag erinnert aber auch daran, dass Frauen nicht per se Opfer sind und mit Verantwortung für die Welt tragen, in der sie leben.


Rückeroberung des eigenen Körpers


In manchen Fällen ist bei intersexuellen Menschen, die als Kind in dem einen Geschlecht aufgewachsen sind, im Erwachsenenalter der Wechsel in das jeweils andere Geschlecht zu beobachten. "Dies muss jedoch nicht bedeuten, dass der Mensch in der anderen Geschlechtsidentität seine 'Bestimmung' sieht, sondern drückt vielmehr eine Rückeroberung des eigenen Körpers aus", erklärt die Wissenschafterin weiter: "Die ProtagonistInnen können sich aufgrund der gesellschaftlichen Normen nur gegen die Zwangszuweisung wehren, indem sie das jeweils andere Geschlecht wählen."

In Texten, die nicht primär die Identitätsentwicklung einer Figur fokussieren, wie z.B. in Kriminalromanen, wird der intersexuelle Körper eher wegen seiner Rätselhaftigkeit zum Thema gemacht. "Figuren, deren äußeres Erscheinungsbild nicht ihrer DNA kompatibel scheint, sind besonders beliebt. Diese verwirren sowohl die Polizei als auch die LeserInnen und machen den Krimi spannender", so die Projektmitarbeiterin. "Letztlich geht es bei dem Projekt um die Sichtbarmachung literarischer Konzeptionen von Körpern und Geschlechtsidentität abseits der gängigen Unterscheidung Mann-Frau. Damit soll auch 'realen' Intersexuellen und ihren Problemen gesellschaftliche Aufmerksamkeit verschafft werden", erklärt Projektleiterin Susanne Hochreiter. (il)

Das FWF-Projekt "Diskursverhandlungen in Literatur über Hermaphroditismus" unter der Leitung von Univ.-Ass. Mag. Dr. Susanne Hochreiter vom Institut für Germanistik läuft von Jänner 2011 bis Jänner 2014.

Literaturtipps:

Belletristik:
Jeffrey Eugenides: Middlesex. Picador: 2003 [2002]
Ulrike Draesner: Mitgift. btb 2005 [2002]

Generelle Information:
Claudia Lang: Intersexualität. Menschen zwischen den Geschlechtern. Campus: 2006.
Kathrin Zehnder: Zwitter beim Namen nennen. Intersexualität zwischen Pathologie, Selbstbestimmung und leiblicher Erfahrung. Transcript: 2010.