Wir lesen zwischen den Zeilen

Laptop mit Kopfhörer

Übersetzen ist mehr als nur Worte ersetzen. Warum die Bedeutungsebenen von Sprache aus kognitionswissenschaftlicher Sicht interessant sind und wie Übersetzen Brücken baut, verrät Translationswissenschafterin Hanna Risku im Gastbeitrag zur Semesterfrage.

Aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive ist es spannend zu untersuchen, wie wir unsere Gedanken und Empfindungen in unserer alltäglichen Kommunikation in Sprache, Gesten und Mimik übersetzen, um uns für andere verständlich zu machen. Aber auch, wie wir die Botschaften anderer verstehen oder missverstehen. Wir haben ein ausgefeiltes Gespür dafür, wie wir wem etwas sagen können und was alles zwischen den Zeilen stehen könnte.


Jedes Semester stellt die Universität Wien eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. Die Semesterfrage im Sommersemester 2020 lautet: "Wie wirkt Sprache?" Zur Semesterfrage Diskutieren Sie mit Hanna Risku darüber im Forum+ auf "derStandard.at"

Aussagen und Zeichen interpretieren

Aus kognitionswissenschaftlicher Sicht ist klar, dass Wörter keine eindeutige Bedeutung haben und immer wieder unterschiedlich gemeint und verstanden werden. Wie macht der Mensch das? Welche Ressourcen stehen ihm dabei zur Verfügung? Unsere individuelle Erfahrung, was Aussagen und Zeichen bedeuten können, spielt eine wichtige Rolle, aber auch die jeweilige Situation, in der diese Zeichen verwendet und interpretiert werden. Das Verstehen von Sprache ist also eine intelligente Leistung, bei der die eigene Erfahrung und die Situation als Ressourcen und Teile des Prozesses genutzt werden.

Die Prozesse, die beim Übersetzen aus kognitionswissenschaftlicher Sicht spannend sind, gehen weit über das Verstehen von Sprache hinaus, bis hin zur Ebene von global vernetzten Arbeitsprozessen, bei denen die Kooperation mit anderen Menschen und der Einsatz von Technologie eine zentrale Rolle spielen. Für viele Situationen reicht das laienhafte, alltägliche Übersetzen nicht aus. Wenn die Kommunikationsbarrieren oder die Quantitäts- oder Qualitätsanforderungen hoch sind, wenn komplexe Fachtexte publiziert oder unterschiedliche Medien und Zielgruppen angesprochen werden sollen, benötigen wir Profis für die Vermittlung und Erstellung von Texten.

Finnisches Wort hän

Mein Lieblingswort ist das finnische "hän". Es ist die geschlechtsneutrale dritte Person und wird für "er" und "sie" verwendet, es ist also die passende Bezeichnung für Menschen aller Art. Es gibt viele Sprachen mit geschlechtsneutralen Pronomen, insofern ist das Wort nichts Besonderes. Die Strukturen der Sprache determinieren auch nicht das Denken und Handeln – und so sind Frauen und Männer auch in Finnland nicht wirklich gleichgestellt, es gibt auch dort strukturelle Diskriminierung von Frauen. Sprache hat aber etwas mit Identität zu tun, und das Wort "hän" symbolisiert für mich meine finnische Identität als gleichberechtigtes Individuum. Es ist das Zeichen für eine inklusive Gesellschaft, die die gleichen Chancen für alle bietet.

Globale Netzwerke der Übersetzung

Dabei ist das berufliche Übersetzen heute weitgehend global vernetzt und stark technologieunterstützt. Kommunikationsprojekte werden von Projektmanager*innen koordiniert, Texte von Spezialist*innen für transkulturelle Kommunikation mithilfe von Sprachtechnologien erstellt, von Mediendesigner*innen gestaltet und von Kommunikationsexpert*innen überprüft. In all diesen Rollen und Bereichen können Übersetzer*innen arbeiten. Für die kognitionswissenschaftliche Betrachtung ist es spannend, wie wir bei solchen komplexen Prozessen den Überblick behalten. Wesentlich sind nicht nur Sprach- und Fachkenntnisse, sondern auch die geschickte Nutzung passender Technologien und die Fähigkeit, in solchen Expertennetzwerken zusammenzuarbeiten.

Europäische Flagge

In der Europäischen Union werden aktuell 24 Sprachen als Amts- und Arbeitssprachen anerkannt. (© pixabay/Capri23auto)

Ohne Translation würden Institutionen wie die Europäische Union nicht funktionieren. EU-Dokumente werden in alle Sprachen der Mitgliedsländer übersetzt, da sie gleichberechtigt sind und EU-Bürger*innen das Recht haben, die Dokumente in ihrer Erstsprache zu lesen. Damit werden Barrieren abgebaut und Partizipation ermöglicht. Übersetzer*innen sind in dies indirekt beteiligt, denn EU-Politik wäre ohne sie nicht vorstellbar. 

Barrieren überwinden

Sprache ist aber nur einer der vielen Aspekte der transkulturellen Kommunikation und des Übersetzens. Übersetzen steht für die Gesamtheit aller Aktivitäten, die Barrieren in der Kommunikation überwinden wollen. Diese können sprachlicher, kultureller, fachlicher, medialer oder sensorischer Art sein. Übersetzen kann innerhalb einer Sprache, zwischen verschiedenen Sprachen oder verschiedenen Medien durchgeführt werden. Bei der Audiodeskription von Filmen werden visuelle Teile in gesprochene Sprache übersetzt, bei der barrierefreien Kommunikation Informationen in Leichte Sprache übersetzt. Unsere Forschung entfernt sich heute von der Analyse von Sprache an sich und konzentriert sich auf die Einbettung des Übersetzens in einen gesellschaftlichen, sozialen und organisatorischen Rahmen, sowie auf mögliche Asymmetrien im Zugang zu Kommunikation.

In unserer fragmentierten, heterogenen, dynamischen und mehrsprachigen Welt haben Übersetzen und Dolmetschen eine enorme Bedeutung: Sie fördern den Zusammenhalt der Gesellschaft durch barrierefreie, inklusive Kommunikation. Damit ermöglichen sie gesellschaftliche Partizipation für alle Bevölkerungsgruppen.  

Hanna Risku

Hanna Risku ist Leiterin des Zentrums für Translationswissenschaft der Universität Wien. Seit 2017 hält sie dort eine Professur für Übersetzungswissenschaft inne. Ihre Forschungsschwerpunkte sind kognitionswissenschaftliche Aspekte des Übersetzens, Ethnographie und Workplace Research in dem Bereich, Translationsmanagement, übersetzungsrelevante Netzwerke, Usability, Wissensmanagement und Translation sowie Übersetzen als Computer-Supported Cooperative Work. (© Petra Schiefer)