Sozialleistungen: Teilen oder nicht teilen?

Die Höhe bedarfsorientierter Sozialleistungen sorgt immer wieder für Debatten. Ein Team um Bernhard Kittel vom Institut für Wirtschaftssoziologie der Uni Wien erforscht die sozialen Mechanismen dahinter. Ihr Fazit: Geteilt wird nur, wenn andere nicht mehr bekommen als man selbst.

Immer wieder zeigt sich in öffentlichen Debatten, dass viele Menschen skeptisch gegenüber bedarfsorientierten Sozialleistungen sind. In Verhaltensexperimenten haben die Wissenschafter*innen untersucht, unter welchen Bedingungen Proband*innen bereit sind, mit anderen zu teilen und ihnen jenen Anteil einer Summe zu überlassen, der einen bestimmten Bedarf abdeckt.

Als Bedarf wurde jeder*m ein jeweils individueller Schwellenwert zugewiesen, der überschritten werden musste, um in eine nächste Runde zu kommen. Die Proband*innen erhielten in Gruppen zu drei Personen den Auftrag, per Mehrheitsentscheidung Geld untereinander aufzuteilen. Es konnten also zwei der drei Proband*innen entscheiden, ob sie den/die Dritte*n in der Verteilung berücksichtigen oder nicht.

Eine Forschungsgruppe der DFG, bestehend aus Politikwissenschafter*innen, Soziolog*innen, Ökonom*innen, Psycholog*innen und Philosoph*innen, hat sich zum Ziel gesetzt, die Rolle von Bedarf bei Verteilungs- und Zuteilungsentscheidungen zu analysieren. In Österreich läuft das vom FWF finanzierte Teilprojekt der Forscher*innengruppe "Bedarfsgerechtigkeit und Verteilungsprozeduren" unter der Leitung von Bernhard Kittel von der Universität Wien noch bis März 2021.

Die Menge an Geld, die insgesamt zur Verfügung stand, war ausreichend, um alle durch die Schwellenwerte definierten Bedarfe zu befriedigen. Entschieden sich die Proband*innen nach dem Bedarfsprinzip, dann würden sie das verfügbare Geld so aufteilen, dass alle den Schwellenwert überschreiten konnten. Eine andere Möglichkeit wäre, nach dem Gleichheitsprinzip die zu verteilende Summe in drei gleiche Teile zu dividieren und jeder Person den gleichen Anteil zu geben. Stellten Proband*innen hingegen das Eigeninteresse in den Vordergrund, würden sie das gesamte Geld unter zwei Personen aufteilen, während der/die Dritte leer ausginge. 

Teilen ja, aber nur wenn man selbst nicht weniger bekommt


Die Ergebnisse der Studie sind eindeutig: "Die Teilnehmer*innen waren grundsätzlich in großem Maße bereit, die Bedarfe anderer zur Leitlinie ihrer Entscheidungen zu machen und diese tatsächlich zu erfüllen", sagt Bernhard Kittel, der den österreichischen Teil des internationalen Projekts leitet: "Sobald die Bedarfe jedoch höher waren als die Zuteilung bei einer strikten Gleichverteilung, sank die Wahrscheinlichkeit markant, dass der Bedarf der/des Dritten erfüllt wird". Während über zwei Drittel der geringen und über die Hälfte der moderaten Bedarfe erfüllt wurden, war dieser Wert bei unter einem Viertel bei Bedarfen, die über der Gleichverteilung liegen.

Und wie viel bekomme ich selbst?

Die Bereitschaft, den Bedarf anderer zu berücksichtigen hängt demnach davon ab, wie groß der eigene Anteil im Vergleich zu den Anteilen anderer ist. Sobald in den Experimenten jemand anderes mehr bekommen soll als man selbst, zählt der Bedarf als Zuteilungskriterium nur mehr für wenige. Viel mehr wird dann das Gleichheitsprinzip stattdessen angewendet. Dabei scheint egal zu sein, ob das bedeutet, dass andere den Schwellenwert nicht erreichen. "Bei aller Vorsicht, die bei einem Vergleich von sozialwissenschaftlichen Laborexperimenten mit Studierenden und menschlichem Verhalten außerhalb des Labors geboten ist, spiegelt das Ergebnis doch deutlich die skeptische Einstellung wider, die viele Menschen gegenüber bedarfsorientierten Sozialleistungen hegen. Das Bedarfsprinzip scheint nur so lange mehrheitsfähig zu sein, wie die Zuteilung geringer ist als das, was einem selbst zur Verfügung steht", so Kittel abschließend.

Die Publikation "The impact of need on distributive decisions: Experimental evidence on anchor effects of exogenous thresholds in the laboratory" (Autor*innen: Bernhard Kittel, Sabine Neuhofer & Manuel Schwaninger) erschien am 1. April 2020 in PLOS-ONE.