Die Kraft der Pflanzen
| 12. Oktober 2016Die Grippezeit steht bevor. Dass bei Fieber und Erkältung diverse Kräuter helfen, wussten schon unsere Großmütter. Warum das so ist, untersucht die Pharmazeutin Judith Rollinger. Gemeinsam mit ihrem Team hat sie Naturstoffe identifiziert, die gängige Medikamente in den Schatten stellen.
Das ein oder andere Heilmittel aus der Natur kennt fast jeder: Johanniskraut macht fröhlich, Buchweizen senkt den Blutdruck und Baldrian hilft beim Einschlafen. Aber welche Inhaltsstoffe der Pflanzen sind es genau, die auf diese Weise wirken? Und können sie vielleicht sogar mehr, als der Volksmund beschreibt?
"Die Natur bietet eine Palette an höchst diversen Strukturen. Aufgrund des Millionen Jahre langen Selektionsdrucks sind diese zu einem 'chemischen Arsenal' für die Pflanzen geworden", erklärt Judith Rollinger vom Department für Pharmakognosie der Universität Wien den pflanzlichen Verteidigungsmechanismus. "Und wir wollen nun wissen, welche Sekundärmetaboliten bzw. Pflanzeninhaltsstoffe aus dieser Palette eine Bioaktivität aufweisen", so Rollinger weiter, die gemeinsam mit ihrem Team diesen "Pool an Inhaltsstoffen" untersucht.
Was ist die Neuraminidase?
Dabei liegt ihr Augenmerk seit einigen Jahren auf der Grippeforschung. "Influenza ist nach wie vor eine schwerwiegende Infektionskrankheit. Weltweit erkranken jährlich drei bis fünf Millionen Menschen, und rund 500.000 Menschen sterben daran", betont die Forscherin.
Verantwortlich für die Verbreitung der Grippeviren ist die sogenannte Neuraminidase. Das sind Oberflächenproteine, die in vielen Bakterien und Viren vorkommen. "Man muss sich die Neuraminidase wie eine Schere vorstellen: Sie trennt die neugebildeten Viren von der Wirtzelle ab, die Viren können sich infolgedessen verbreiten und die Infektion kann weiter fortschreiten", erklärt Rollinger.
Altes Kräuterwissen nutzen
Um sich vor einer Grippeerkrankung zu schützen, gibt es zwar präventive Maßnahmen wie die Impfung, doch da sich die Virenstämme ständig verändern, braucht es trotz allem antivirale Therapeutika. "Auch greifen nicht alle Medikamente, da es immer wieder zu Resistenzentwicklungen kommt", so Rollinger.
Die Forscherinnen sind daher auf der Suche nach innovativen Konzepten und konnten bereits einige Naturstoffe identifizieren, die in der Lage sind, Resistenzentwicklungen zu bekämpfen. Dafür greifen sie unter anderem auf hunderte Jahre altes Kräuterwissen zurück: "Anhand bestimmter Schlagworte – wie Kopfweh, Husten, Fieber, Brustschmerzen oder Katarr – durchsuchen wir alte Kräuterbücher, die teilweise bis in die heutige Zeit Aktualität besitzen", erklärt die Doktorandin Elisabeth Mair.
Wirkungsvoller als gängige Grippemedikamente
Basierend auf diesen Schlagworten wählen die Forscherinnen bestimmte Pflanzen aus, testen deren Toxizität und entscheiden, welche sie näher untersuchen wollen. Eine davon ist der weiße Maulbeerbaum, genauer gesagt seine Wurzelrinde, die auch in der traditionellen chinesischen Medizin Anwendung findet. "Aus dieser Wurzelrinde haben wir ein Vielstoffgemisch extrahiert, das unzählige bioaktive Verbindungen enthält", so Projektmitarbeiterin Ulrike Grienke, die zeigen konnte, dass zwei der daraus isolierten Substanzen die bakterielle und virale Neuraminidase hemmen. "Im Vergleich zum gängigen Grippemedikament Tamiflu, einem bekannten Neuraminidase-Inhibitor, wirken unsere Substanzen weit besser", freut sich die junge Forscherin.
Es wird allerdings noch etwas dauern, bis diese Substanzen in der Apotheke erhältlich sind. Und bis es soweit ist, heißt es Tee trinken und abwarten. Denn bekanntlich ist ja gegen (fast) alles ein Kraut gewachsen. (ps)
Das FWF-Projekt "Natural Lead Structures Targeting Influenza" läuft von Jänner 2012 bis Dezember 2016 unter der Leitung von Univ.-Prof. Mag. Dr. Judith Maria Rollinger, stv. Leiterin des Departments für Pharmakognosie. ProjektmitarbeiterInnen sind: Dr. Ulrike Grienke und Mag. pharm. Christina Mair vom Department für Pharmakognosie; Kollaborationspartner sind: PD Dr. Michaela Schmidtke (Univeritätsklinikum Jena, D), Prof. Dr. Johannes Kirchmair (Universität Hamburg, D), Prof. Dr. Klaus Liedl und Dr. Susanne von Grafenstein (Universität Innsbruck).