Kleopatras Schwester bleibt weiterhin verschollen
10. Januar 2025CSI-Methoden zeigen: Schädel aus der Sammlung des Departments für Evolutionäre Anthropologie stammt nicht von Arsinoë IV
Ein interdisziplinäres Forschungsteam um den Anthropologen Gerhard Weber von der Universität Wien hat zusammen mit Expert*innen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften einen Schädel untersucht, der 1929 in den Ruinen von Ephesos (Türkei) gefunden wurde. Lange wurde spekuliert, es könnte sich dabei um die Überreste von Arsinoë IV handeln, der Schwester der berühmten Kleopatra. Die jüngsten anthropologischen Analysen zeigen aber, dass es sich bei den Überresten um einen Buben im Alter zwischen 11 und 14 Jahren handelt, der unter krankhaften Entwicklungsstörungen litt. Seine Gene deuten auf einen Ursprung in Italien oder auf Sardinien hin. Die Ergebnisse erscheinen aktuell in Scientific Reports.
Der österreichische Archäologe Josef Keil und seine Kollegen entdeckten 1929 in den Ruinen des einst prächtigen "Oktogons", einem Prunkbau an der Hauptstraße von Ephesos (Türkei), einen komplett mit Wasser gefüllten Sarkophag. Darin waren keine bedeutenden Grabbeigaben zu finden, aber ein komplettes Skelett. Nur den Schädel nahm Josef Keil mit, bevor die Forscher die Grabstätte an der wichtigen "Kuretenstraße" wieder verschlossen. Nach seiner ersten Analyse in Greifswald (Deutschland) ging er davon aus, dass es sich bei der Bestattung um "eine ganz vornehme Persönlichkeit" und vermutlich um eine 20-jährige Frau handelte. Harte Daten blieb Keil schuldig, aber der Schädel trat anlässlich seiner neuen Berufung an die Universität Wien im Reisegepäck den Weg nach Wien an. 1953 publizierte der Vorstand des Anthropologie-Institutes der Universität Wien, Josef Weninger, schließlich einen Artikel mit Fotos und Messungen. Er kam ebenfalls zu dem Schluss, dass der Schädel aus dem "Heroengrab", so die Bezeichnung auf einem vergilbten Beizettel des Fundes, eine junge Frau repräsentieren sollte, die von einem "verfeinerten, spezialisierten Typus" sei, was auf die höhere Aristokratie der Antike hindeuten könnte.
In Ephesos wurde bei späteren Grabungen 1982 der Rest des Skelettes aufgefunden, diesmal aber nicht im Sarkophag, sondern in einer Nische in einem Vorraum der Grabkammer. Aufgrund der vermuteten architektonischen Anleihen des Oktogons bei dem ägyptischen Vorbild des "Pharos von Alexandrien" und der zusätzlichen historischen Fakten, wonach Arsinoë IV um 41 v. u. Z. in Ephesos auf die Veranlassung von Marcus Antonius, Geliebter von Kleopatra, ermordet wurde, entstand 1990 eine Hypothese: Arsinoë IV könnte in diesem prunkvollen Grab in Ephesos ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Seither rankten sich zahlreiche Meldungen und Publikationen um dieses Gerücht.
CSI-Methoden der heutigen Anthropologie und wissenschaftlichen Archäologie
Das Department für Evolutionäre Anthropologie an der Universität Wien hat sich in den letzten Jahren stark vergrößert und verfügt mittlerweile über praktisch alle modernen Methoden in dieser Disziplin. Gemeinsam mit Genetiker*innen, Datierungsspezialist*innen, Kieferorthopäd*innen der Universität Wien und Archäolog*innen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften begann die wissenschaftliche Arbeit am Schädel.
Der Schädel wurde im ersten Schritt einer Micro-Computer-Tomographie unterzogen, um seine digitale Kopie mit einer Auflösung von 80 Mikrometer für alle Zeiten zu archivieren. Dann entnahmen die Wissenschafter*innen geringe Proben im Milligramm-Bereich von der Schädelbasis und dem Innenohr, um Alter und genetischen Status zu bestimmen. Die Daten aus dem Massenspektrometer wurden mit den neuesten Kalibrationskurven abgeglichen, die sogar die vermutete Ernährungszusammensetzung mit berücksichtigten. Der Schädel datiert demnach in die Jahre zwischen 36 und 205 v. u. Z., was gut mit dem überlieferten Sterbedatum von Arsinoë IV im Jahre 41 v. u. Z. übereinstimmt. Die Genetiker*innen fanden weiters eine Übereinstimmung des Schädels mit vorhandenen Proben vom Oberschenkelknochen. Das Skelett, dass sich später im Vorraum des Oktogons fand, gehörte also tatsächlich zur gleichen Person wie der Schädel, den Josef Keil 1929 aus dem Sarkophag entfernt hatte. "Aber dann kam die große Überraschung: Schädel und Oberschenkelknochen zeigten beide ganz eindeutig in wiederholten Versuchen das Vorliegen eines Y-Chromosoms – also eines Mannes", erklärt Gerhard Weber.
Die morphologische Auswertung des Schädels und der Mikro-CT-Daten ergaben, dass der Junge aus dem Oktogon noch in seiner Pubertät steckte und ca. 11 bis 14 Jahre alt war. Das belegen die hochauflösenden Aufnahmen der Zahnwurzeln und der sich noch entwickelnden Schädelbasis. Er litt aber offensichtlich generell an einer krankhaften Entwicklung. Eine seiner Schädelnähte, die normalerweise erst im Alter von 65 Jahren verwächst, war bei ihm bereits geschlossen. Der Schädel zeigt dadurch eine stark asymmetrische Form.
Am auffälligsten aber war der unterentwickelte Oberkiefer, der außergewöhnlich abgewinkelt nach unten zeigt und vermutlich zu großen Problemen beim Kauen führte. Das belegen auch die auffälligen Winkel der Kiefergelenke und der Zahnbefund von zwei im Kiefer verbliebenen Zähnen. Der erste permanente Backenzahn, der erste Zahn des Dauergebisses und damit üblicherweise am längsten im Einsatz, zeigte überhaupt keine Anzeichen einer Nutzung. Der erste Vormahlzahn hingegen, der sich erst einige Jahre später in der Zahnreihe einstellt, war abgekaut und hatte deutliche Risse, vermutlich als Folge einer Überbelastung. Die Forscher*innen schließen daraus, dass kein regelhafter Zahnkontakt bestand, eine Folge der Wachstumsanomalie der Kiefer und des Gesichts. Was zu den Wachstumsstörungen führte, bleibt vorerst ungeklärt. Es könnte sich z.B. um einen Vitamin-D Mangel gehandelt haben. Auch genetische Syndrome wie das Treacher-Collins-Syndrom führen zu einem ähnlichen Erscheinungsbild wie das des Jungen aus dem Oktogon.
Das Ende eines Gerüchts und der Anfang einer neuen Suche
Nun steht also fest, dass nicht die Schwester Kleopatras im Oktogon in Ephesos begraben wurde, sondern ein junger Mann mit Entwicklungsstörungen, der vermutlich Römer war. Warum es bei diesem Gebäude die architektonischen Anleihen an Ägypten gab, bleibt offen. Klar ist, dass das Grab für eine Person von sehr hohem sozialen Status vorgesehen war. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie eröffnen jedenfalls ein weites Feld für neue spannende Forschung. Und die Suche nach den Überresten von Arsinoë IV kann nun frei von Gerüchten neu aufgenommen werden.
Originalpublikation in "Scientific Reports":
The cranium from the Octagon in Ephesos.
Gerhard W. Weber, Petra G. Šimková, Daniel Fernandes, Olivia Cheronet, Elöd Ury, Harald Wilfing, Katarina Matiasek, Alejandro Llano-Lizcano, Pere Gelabert, Immo Trinks, Katerina Douka, Sabine Ladstätter†, Tom Higham, Martin Steskal, Ron Pinhasi
DOI: 10.1038/s41598-024-83870-x
Ein Auswahl von Bildern der Pressekonferenz finden Sie hier.
Abbildungen:
PK-Abb. 1: Gerhard Weber und Martin Steskal bei der Pressekonferenz. C: derknopfdruecker
PK-Abb. 2: Gerhard Weber bei der Pressekonferenz. C: derknopfdruecker
PK-Abb. 3: Der Schädel aus dem Oktogon von Ephesos. C: derknopfdruecker
Abb. 1: Der Schädel aus dem Oktogon von Ephesos in der Sammlung des Instituts für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien. Auf dem beiliegenden vergilbten Zettel steht: "Schädel aus Ephesus". C: Gerhard Weber, University of Vienna
Abb. 2: Der Oktogon-Schädel wird im Wiener Mikro-CT-Labor mit einer Auflösung von 80 Mikrometern gescannt. C: Gerhard Weber, University of Vienna
Abb. 3: Die Überreste des Oktogons in Ephesos, historisches Bild. C: Austrian Academy of Sciences/Austrian Archaeological Institute
Abb. 4: Virtuell rekonstruiertes Bild des Oktogons in Ephesos in seinem vermuteten Aussehen. C: Austrian Academy of Sciences/Austrian Archaeological Institute
Abb. 5: Ansicht des Oktogons entlang der Kuretenstraße in Ephesos. Erhalten ist lediglich der marmorverkleidete Sockel. C: Austrian Academy of Sciences/Austrian Archaeological Institute
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