Rechner mit "Bauchgefühl": Social Computing – ein neuer Ansatz der Verhaltensforschung

Woher weiß das menschliche Gehirn, ob eine Situation normal ist oder ob gerade etwas Außergewöhnliches passiert? Was erzeugt also beim Menschen "soziale Aufmerksamkeit"? Social Computing beschreibt die rechnergestützte Analyse und Modellierung solcher Prozesse in ihrem sozialen Kontext. Im Rahmen des internationalen Forschungsprojekts VANAHEIM, das strenge Datenschutzauflagen erfüllt, wird auf Basis von Videoüberwachungsdaten ein intelligentes System entwickelt, das automatisch Alarm auslöst, wenn z.B. im U-Bahn-Bereich etwas Ungewöhnliches passiert. Eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Karl Grammer, Verhaltensforscher an der Universität Wien, beteiligt sich daran.

Nach dem 11. September 2001 hat im Bereich Social Computing ein Boom eingesetzt. In öffentlichen Bereichen wurden zahllose Kameras installiert, um der Angst vor Terroranschlägen und Kriminalität entgegenzuwirken. Doch die Menge an Informationen, die durch Videoüberwachung entstanden ist, lässt sich nicht auf traditionelle Weise bewältigen. Während Lösungen für dieses Problem gesucht werden, ergeben sich gleichzeitig völlig neue Anwendungsmöglichkeiten für den Einsatz der so gewonnenen Daten: Wie kann Video-Überwachung im öffentlichen Raum zur Optimierung von Prozessen und Verbesserung der Infrastruktur genutzt werden? Diese Frage steht im Vordergrund des mit 3,7 Millionen Euro von der EU geförderten vierjährigen Projekts VANAHEIM, an dem sich unter Federführung belgischer ForscherInnen auch WissenschafterInnen aus Österreich, Frankreich, Italien und der Schweiz beteiligen.

"Wir wollen herausfinden, wie die Fülle der visuellen und auditiven Information besser als bisher genutzt werden kann und ob kognitive Prozesse so modellierbar sind, dass sie automatisiert werden können", erklärt Karl Grammer, Professor am Department für Anthropologie der Universität Wien, die Forschungsvorgabe. Im ersten Projektjahr wurden die methodischen Grundsteine gelegt, derzeit beginnt die Entwicklungsphase. Am Ende des Projekts im Jahr 2013 soll ein einsatzfähiges System bereitstehen.

Mit Videoaufnahmen "soziale Aufmerksamkeit" modellieren
Die eigentliche Herausforderung des Projektes liegt in der Modellierung kognitiver Systeme. Deshalb beschäftigt sich die Arbeitsgruppe am Department für Anthropologie der Universität Wien mit der Frage, was bei einem Menschen "soziale Aufmerksamkeit" erzeugt: Der zurückgelassene Koffer auf dem Bahnsteig ist dabei noch ein leicht zu lösendes Problem. Wie lassen sich seltene Ereignisse beschreiben? "Dazu werden große Mengen von Videoaufnahmen von U-Bahn-Überwachungssystemen Probanden vorgeführt. Diese markieren die Szenen, die ihnen auffallen. Darüber hinaus wird das Blickverhalten mit den Inhalten der Szenen in Zusammenhang gebracht, um zu verstehen, was menschliche Aufmerksamkeit erregt", erläutert Projektmitarbeiterin Elisabeth Oberzaucher die Vorgangsweise. "Die als ungewöhnlich bewerteten Szenen werden mithilfe computergestützter Bild- und Soundanalysen beschrieben, und die so gewonnenen Daten sind die Basis für die Entwicklung eines Computeralgorithmus, der wiederum in das Überwachungssystem integriert werden wird."

Ziel ist nicht Überwachung, sondern Service
Die Ängste, dass durch computergestützte Videoüberwachung ein gläserner Mensch entsteht, fußen auf einer Überschätzung der technischen Möglichkeiten: So ist es beispielsweise derzeit nicht möglich, eine einzelne Person über mehrere Kameras zu verfolgen. Der Nutzen eines effizienteren Überwachungssystems liegt vor allem in einem besseren Service – gerade auch für ältere Menschen. So könnte Alarm beim Betreiber ausgelöst werden, wenn jemand mit der Rolltreppe oder mit dem Fahrscheinautomaten nicht zurechtkommt, d.h. vor allem infrastrukturell verursachte Probleme werden sichtbar gemacht. Im Rahmen des Projektes ist schon die eine oder andere “Stolperfalle” identifiziert und aus dem Weg geräumt worden. So sind z.B. Übersichtspläne, die am Ende einer Rolltreppe angebracht waren und häufig Staus verursacht hatten, besser in der Station positioniert worden. Gewalttaten sind hingegen seltene Ereignisse und deshalb in der automatischen Videoanalyse schwer zu modellieren. Ob das neue System irgendwann auch für Gewaltprävention eingesetzt werden kann, bleibt derzeit noch offen.

Ethikkommission genehmigt Projekt
Das Projekt unterliegt strengen Datenschutzauflagen und wurde von einer Ethikkommission geprüft und genehmigt. Bislang wurden Videoaufzeichnungen überwiegend rückblickend verwendet – so greift die Exekutive zur Aufklärung von Kriminalfällen darauf zurück. Es gilt als erwiesen, dass die Präsenz von Überwachungssystemen Kriminalität reduziert. Besonders in U-Bahnstationen und Zügen wurde dadurch Vandalismus eingedämmt – was enorme Kosten spart.

Weitere Information unter: www.vanaheim-project.eu

Wissenschaftlicher Kontakt
Mag. Dr. Elisabeth Oberzaucher
Department für Anthropologie
Universität Wien
1090 Wien, Althanstraße 14 (UZA I)
T +43-1-4277-547 20
elisabeth.oberzaucher(at)univie.ac.at

Rückfragehinweis
Mag. Veronika Schallhart
Öffentlichkeitsarbeit
Universität Wien
1010 Wien, Dr.-Karl-Lueger-Ring 1
T +43-1-4277-175 30
M +43-664-602 77-175 30
veronika.schallhart(at)univie.ac.at

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