Demokratie "gefühlt": Der Balkan und die Europäisierung
| 23. November 2010Am Institut für Politikwissenschaft geht im Dezember dieses Jahres das dreijährige FWF-Projekt "Transformations- und Demokratisierungsprozesse am Balkan" zu Ende. Im Mittelpunkt der Forschung standen drei postjugoslawische Republiken: Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Serbien. Ein Aspekt der Ergebnisse - Ethnizität und Demokratisierung - ist am Donnerstag, 25. und Freitag, 26. November 2010 Thema der internationalen Konferenz "Democratization and Europeanization in the Western Balkans".
"Im Prozess der Staatenbildung nach dem Zerfall von Jugoslawien standen in Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Serbien - im Rahmen unseres Forschungsvorhabens beschränkten wir uns auf diese drei Länder - die jeweiligen Nationalidentitäten im Vordergrund", erklärt Projektleiter Dieter Segert vom Institut für Politikwissenschaft die Ausgangslage: "Gleichzeitig bemühte sich die EU darum, die kriegsgeschüttelten Nachfolgestaaten in die Arme des stabilen und reichen Europas zu bewegen." Im kürzlich abgeschlossenen FWF-Projekt interessierte ihn insbesondere, welche Konflikte im Spannungsfeld "Nationalstaatsbildung - Europäisierung - Demokratisierung" entstehen können.
Fortsetzung ethno-nationalistischer Politiken
Gemeinsam mit Vedran Dzihic und Angela Wieser analysierte der Politikwissenschafter, inwieweit eine Diskrepanz zwischen der formalen Implementierung demokratischer Strukturen und der gelebten demokratischen Realität in der Region besteht. Als einen besonders wichtigen Faktor arbeiteten die WissenschafterInnen das Verhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten heraus. Der Befund: Die Fortsetzung ethno-nationalistischer Politiken in den Staaten behindert den Prozess der Demokratisierung.
"Bosnien beispielsweise zeigt ganz klar, dass sich die politischen Eliten nicht besonders viel vom Europäisierungsprozess erwarten beziehungsweise nicht genug Vorteile sehen, um im Gegenzug ihre nationalistische Politik aufzugeben. Sie sind eher bereit ihre Machtbasis durch symbolische Politik, Hasssprache, ethnischen Negativismus auszubauen", nennt Vedran Dzihic eines der Projektergebnisse.
Die Situation ethnischer Minderheiten
Eine ähnliche Situation, wenngleich in unterschiedlicher Ausprägung, kennt man auch in Kroatien - jenem Land, das bereits ein beachtliches Stück auf dem Weg in die Europäische Union zurückgelegt hat. In der Region um die Stadt Knin im Hinterland Norddalmatiens untersuchten die WissenschafterInnen die Qualität und Stabilität der Demokratie anhand der Situation der ethnischen Minderheiten. "Knin war über lange Zeit von SerbInnen bewohnt. Im Krieg wurden sie von dort vertrieben, einige siedelten sich danach wieder in der Region an", erzählt Dzihic: "Die zweite, intensiv beforschte Region war der Sandschak im Südwesten Serbiens, mehrheitlich von BosniakInnen bewohnt."
In beiden Fällen standen u. a. Fragen nach der Akzeptanz des Staates durch die Minderheit, die Repräsentanz der Minderheit auf politischer Ebene sowie ihre sozioökonomische Lage im Mittelpunkt.
Exkurs: Sandschak
"Wir haben im Sandschak zahlreiche Interviews durchgeführt: mit politischen VertreterInnen der Serben und Bosniaken, mit WissenschafterInnen, mit VertreterInnen von NGO's sowie mit der lokalen Bevölkerung. Ein klares Ergebnis ist, dass die Implementierung von Minderheiten- und Menschrechten auf staatlicher Ebene in der Praxis wenig Wirkung zeigt - und das gilt auch für die Situation im kroatischen Knin", schildert Dzihic.
Im Fall Sandschak ist die bosnische Minderheit sowohl mit ihrer Repräsentanz in Belgrad als auch mit der Möglichkeit, ihre Rechte wahrzunehmen, sehr unzufrieden. Sie stellt sich in eine unmittelbare Gegnerschaft zum Staat, erachtet diesen nicht als den eigenen und findet sich in einem permanenten Gegensatz zu Belgrad wieder - "all das in einem Staat, der sich formal in Richtung EU bewegt und nun auch eine wichtige Hürde - nämlich die Weiterleitung des serbischen Beitrittsgesuchs an die EU-Kommission - genommen hat", fügt der Projektleiter hinzu.
Gefühlte Demokratie
Sichtbar werden Abweichungen zwischen formal implementierter und "gefühlter" Demokratie auch im sozioökonomischen Feld. Angela Wieser stellt fest: "Insbesondere in postsozialistischen Ländern sind Demokratisierungsprozesse ganz klar mit sozio-ökonomischen Gesichtspunkten verknüpft. Die wirtschaftliche Lage hat demnach Einfluss darauf, ob die BürgerInnen bereit sind, sich an politischen Prozessen zu beteiligen."
Internationale Konferenz zum Projektabschluss
"Ethnische Diversität als Faktor für demokratische Konsolidierung" ist nun Schwerpunkt der internationalen Konferenz "Democratization and Europeanization in the Western Balkans", im Rahmen derer die Forschungsergebnisse präsentiert und mit internationalen ExpertInnen diskutiert werden.
Der Eröffnungsdebatte am Donnerstag, 25. November 2010, zum Thema "Ethnische Diversität und Demokratisierung. Der Westbalkan auf dem Weg in die Europäische Union" gehen Begrüßungsworte des Direktors des Renner-Instituts Karl A. Duffek sowie des Rektors Georg Winckler voraus.
Dieter Segert wird die Debatte eröffnen und im Anschluss daran das Wort an Florian Bieber und Joseph Marko von der Karl-Franzens-Universität Graz, Anna Krasteva von der New Bulgarian University Sofia, Igor Štiks von der University of Edinburgh sowie Vedran Dzihic weitergeben. Am Samstag, 26. November, werden die TeilnehmerInnen der Konferenz im Rahmen von drei Panels zentrale Fragen und Dilemmata der Demokratisierung am Balkan analysieren. Zu erwarten ist eine spannende Diskussion, in der auch das Hinterfragen westlicher Demokratietheorien und -indizes nicht zu kurz kommen wird. (dh)
Das dreijährige FWF-Projekt "Transformations- und Demokratisierungsprozesse am Balkan" startete im Jänner 2008 unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Dieter Segert. Am Projekt beteiligt waren Mag. Dr. Vedran Dzihic und Mag. Angela Wieser, MA. Das Projekt ist an der am Institut für Politikwissenschaft angesiedelten Plattform POTREBA (Processes of Transformation and Europeanization in the Balkans) beheimatet.
Konferenz: Democratization and Europeanization in the Western Balkans
Donnerstag, 25. November und Freitag, 26. November 2010
Renner-Institut - Europasaal
Eingang: Gartenhotel Altmannsdorf, Hoffingergasse 33, 1120 Wien
Nähere Informationen
Die Konferenzsprache ist Englisch.