"Der Sport muss Verantwortung übernehmen"
| 11. April 2018Das EU-Projekt VOICE gibt Betroffenen von sexualisierter Gewalt im Sport eine Stimme und erarbeitet konkrete Maßnahmen zur Prävention – in engem Kontakt zu Opferschutz- und Sportorganisationen. Die Universität Wien ist mit der Sportwissenschafterin Rosa Diketmüller Projektpartnerin.
"Wir wissen, dass es in Österreich Fälle von sexualisierter Gewalt im Sport gibt, aber es war schwieriger als gedacht, an die Betroffenen für unsere Interviewstudien heranzukommen", erklärt Rosa Diketmüller vom Institut für Sportwissenschaft und österreichische Projektleiterin des EU-Projekts "VOICE – Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt im europäischen Sport durch die Stimmen der Betroffenen": "Viele wollen verständlicherweise ihre Geschichte emotional nicht nochmals durchleben, teilweise blocken auch die Sportvereine ab – mit dem 'Argument', ihre Opfer schützen zu wollen."
Unterschiedliche Aufarbeitung
In England, Dänemark und Belgien läuft die Aufarbeitung von Fällen bereits seit 20 Jahren. Daher ist es dort weniger ein Tabuthema als in den anderen Partnerländern Ungarn, Slowenien und Österreich. "Ungarn musste aus dem VOICE-Projekt aussteigen, da es den WissenschafterInnen unmöglich gemacht wurde, an Betroffene heranzutreten. Dort heißt es 'bei uns gibt es sowas nicht'", so Diketmüller. "Für Österreich konnten wir, nach einer längeren Anlaufphase, mit sieben Betroffenen Interviews führen."
Insgesamt führen WissenschafterInnen der acht teilnehmenden Universitäten sieben bis zehn komplett anonymisierte Interviews mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt. "Wir wollen ihnen eine Stimme geben und die Möglichkeit, ihre ganz eigene, persönliche Geschichte zu erzählen", sagt Diketmüller.
Die Interviews werden in Kooperation mit Opferschutzverbänden durchgeführt und wissenschaftlich analysiert. Ziel ist es, typische Mechanismen der Machtausübung zu identifizieren. Darauf aufbauend entwickeln die WissenschafterInnen gemeinsam mit VertreterInnen von Opferschutz- und Sportorganisationen präventive Maßnahmen.
Die deutsche SafeSport-Studie belegt, dass es in Sportorganisationen, die präventive Maßnahmen durchführen, zu weniger Übergriffen kommt. "TäterInnen suchen keinen Widerstand. Wo nicht darüber geredet wird und sexualisierte Gewalt ein Tabuthema ist, ist es für sie weitaus einfacher", so Rosa Diketmüller. (© Martina Pöll)
Sensibilisieren und darüber reden
Derzeit werden auf Basis der rund 80 Fallgeschichten von Betroffenen prototypische Kurzfilme erstellt, die den Sportorganisationen zur Verfügung gestellt werden. "Diese Videos sollen für das Thema sensibilisieren, Opfern eine Stimme geben und Betroffenen verdeutlichen, dass sie nicht alleine sind. Sie zeigen die große Bandbreite sexualisierter Gewalt und beinhalten ganz unterschiedliche Beispiele in unterschiedlichen Settings, wie im Turnsaal, in der Garderobe, in Vereinen etc."
Diese VOICE-Videos liefern eine wichtige Ergänzung zu konkreten Präventionsmaßnahmen, die in Österreich im Rahmen eines Österreichischen Aktionsplans bereits erarbeitet wurden und aktuell implementiert werden (siehe Kasten unten). Gefordert wird darin die Ablegung eines Ehrenkodex ähnlich dem hippokratischen Eid, die Einführung der Vorlage von Strafregisterbescheinigungen, die Entwicklung von Handlungsleitfäden für Sportvereine und die Durchführung von Schulungen und Workshops.
Die Sportwissenschafterin Rosa Diketmüller leitet nicht nur den österreichischen Teil des EU-Projekts VOICE, sie ist zudem Leiterin der österreichischen Arbeitsgruppe "Prävention sexualisierter Gewalt", die im Rahmen der nationalen Umsetzung der EU-Strategie "Gender Equality in Sport 2014-2020" eingerichtet wurde. Sportministerium und Sportdachverbände finanzieren die Umsetzung von Maßnahmen und Projekten. (Screenshot: 100% Sport)
Emotional nicht möglich
Sexuelle Übergriffe im Sportkontext finden nahezu immer in einem Machtverhältnis statt. "Die Täter sind in 90 bis 95 Prozent der Fälle männlich und in der Trainer- oder Funktionärsrolle. Auf der Opferseite finden sich Mädchen und Frauen genauso wie Burschen und Männer", sagt Rosa Diketmüller: "Für männliche Betroffene ist es oftmals noch viel schwieriger, über selbst erlebte Übergriffe und Gewalt zu sprechen, daher ist die Dunkelziffer sicherlich höher. In dänischen Studien zeigte sich, dass sexualisierte Übergriffe, die z.B. verbaler Natur sind, häufiger bei Mädchen vorkommen, Burschen dagegen häufiger von schweren Fällen von Missbrauch betroffen waren."
Für Nicht-Betroffene sind die psychischen und emotionalen Belastungen, die sexualisierte Gewalt mit sich bringt, oft nicht nachvollziehbar. Die psychischen Extremsituationen machen es für die Betroffenen auch so schwer, die Übergriffe zu verbalisieren. Die Sportwissenschafterin erzählt vom Fall eines österreichischen Athleten, dem es erst nach acht Jahren in Therapie möglich war, über seine Gewalterfahrungen zu sprechen: "Er möchte mit seiner Geschichte aber auf keinen Fall in die Medien, sondern nur dazu beitragen, dass Betroffenen geholfen werden kann. Die Geschichten zu erzählen, kann für Betroffene sehr belastend sein und zu weiteren Retraumatisierungen führen."
Sie leben für ihren Sport
Das ist auch einer der Gründe, warum Betroffene erst viele Jahre später ihre Geschichte erzählen können. Dann aber ist es oft schwierig, vorgebrachte Vorwürfe gegen mutmaßliche TäterInnen auch beweisen zu müssen. Betroffene sehen sich dabei häufig Anfeindungen und Anzweifelungen ausgesetzt. "Man muss schon ein sehr starker Charakter sein, um das durchzustehen", ist Diketmüller auch angesichts der aktuellen medialen Debatte überzeugt.
Dass Betroffene so lange schweigen und Übergriffe nicht sofort anzeigen, hat mit gezielten Strategien von TäterInnen zu tun, die Opfer austesten, Grenzen schrittweise überschreiten und Opfer in eine hohe Abhängigkeit versetzen, sodass deren Schweigen sicher ist. (© VOICE)
Die Betroffenen leben für ihren Sport, schauen oftmals zum Trainer bzw. zur Trainerin als MentorIn auf, bewegen sich oft nur in diesem Umfeld und ordnen ihren Zielen vieles unter. Hinzu kommen auch die eigene Scham, sich nicht gewehrt zu haben und die Angst, dass einem niemand glaubt. "Die Übergriffe aufzuzeigen, würde für viele das Ende ihres Sports bedeuten und aus ihrer Welt herauszufallen", so Diketmüller.
Hilfestellung für Opfer
Im Mai 2018 werden die in VOICE entwickelten Maßnahmen auf einer Abschlusskonferenz vorgestellt. Dazu geladen sind Stakeholder sowie Sport-, Opferschutz- und Trainerorganisationen. Den interviewten Betroffenen wird ein Forum zur Vernetzung geboten. "Durch die derzeitige #metoo-Debatte und aktuelle, auch medial bekannt gewordene Fälle bin ich sehr positiv gestimmt, dass die im VOICE-Projekt und in der österreichischen Arbeitsgruppe erstellten Maßnahmen und Leitfäden von Sport und Politik auch umgesetzt werden", so Rosa Diketmüller abschließend. (td)
Das EU-Projekt "VOICE – Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt im europäischen Sport durch die Stimmen der Betroffenen" läuft von Jänner 2016 bis Juni 2018. Insgesamt nehmen acht europäische Universitäten daran teil; den österreichischen Projektteil leitet Ass.-Prof. Mag. Dr. Rosa Diketmüller vom Institut für Sportwissenschaft der Universität Wien.