Die Vermessung des Wiener Anthropozäns

Wo Menschen leben, verändern sie den Untergrund unter ihren Füßen. So auch in Wien. Dort hat sich seit der Besiedlung durch die Römer eine unterirdische Schichtabfolge aufgebaut. ForscherInnen rund um Michael Wagreich untersuchen diese und leisten einen Beitrag zur Debatte um ein neues Erdzeitalter.

Bewirtschaftung, Bautätigkeiten, die Herstellung von Gütern, aber auch Abfälle hinterlassen Spuren und vermischen sich mit dem natürlichen Erdreich. So hat der Geologe Eduard Suess schon vor 150 Jahren erkannt, dass der Untergrund Wiens ein bemerkenswerter Ausdruck menschlichen Einflusses auf die Natur ist. Der Gründer der Wiener geologischen Schule und Planer der ersten Wiener Hochquellwasserleitung prägte den Begriff "Schuttdecke" für jene jüngste geologische Schicht, die vom Menschen massiv verändert wurde.

"Während ArchäologInnen einzelne Artefakte wie Scherben oder Ziegel untersuchen, interessieren wir uns für die Klassifizierung und Quantifizierung der anthropogenen Ablagerungen – das heißt wir schauen uns das gesamte Sediment an und versuchen, hier Unterteilungen zu charakterisieren", so Michael Wagreich vom Department für Geodynamik und Sedimentologie der Universität Wien.

Im Jahr 2000 schlug der Nobelpreisträger Paul J. Crutzen erstmals vor, ein neues Erdzeitalter zu definieren, das den immensen Einfluss des Menschen auf das System Erde zum Ausdruck bringt: das Anthropozän. Die Internationale Kommission für Stratigraphie (ICS) hat 2009 eine Arbeitsgruppe, der u.a. Michael Wagreich angehört, eingesetzt, um zu beurteilen, ob dieser Vorschlag wissenschaftlich Sinn macht und wann das neue Erdzeitalter beginnen soll.

Eine rasante Welle

Der Geologe zeigt im Rahmen eines WWTF-Projekts, wie sich die vom Menschen verursachten Ablagerungen unter der Stadt Wien über die Jahrhunderte ausgedehnt haben. Wagreich spricht von der "anthropozänen Welle" – eine von ihm kreierte Metapher: "Die anthropogenen Ablagerungen des Menschen breiten sich unter Städten wie Wien enorm schnell aus – schnell im Vergleich zu den gängigen geologischen Zeiträumen, die in der Regel nicht unter tausenden bis zehntausenden Jahren andauern. Insofern kann man sich diesen Prozess als eine rasante, immer höher werdende, schwallartige Welle vorstellen."

Das Projekt "The Anthropocene Surge" unter der Leitung von Michael Wagreich ist eine interdisziplinäre Initiative der Universität Wien und der Universität für Angewandte Kunst, wird vom WWTF, dem Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds, gefördert und gemeinsam mit GeographInnen, ArchäologInnen und einer Künstlerin umgesetzt. (© Martin Lifka)

Blei aus dem alten Rom

Die "anthropozäne Welle" nahm mit den ersten steinzeitlichen Funden ihren Ausgang und beschleunigte sich ab den römischen Besiedlungen. Seither hat sie sich vom Zentrum Wiens aus in alle Richtungen vorgearbeitet. Davon zeugen zum Beispiel die Bleigehalte im Wiener Untergrund: Schon die Römer verwendeten Blei als gut formbares Material zum Abdichten der Wasserleitungen. Viel später ist es als Benzinzusatzstoff in den Untergrund gelangt – und damit ein guter Indikator für die industrielle Revolution sowie fortschreitende Motorisierung.

Forschung im Untergrund

Die ForscherInnen untersuchen die anthropogenen Ablagerungen Wiens auf ihren Inhalt und Schwermetallanteile wie Blei und Kupfer, um die anthropogene Schuttdecke zu klassifizieren. Für ihre Messungen tauchen sie auch ins unterirdische Wien ab; sie nutzen etwa gemeinsam mit ArchäologInnen neue Grabungen im Zuge des U-Bahnausbaus der neuen Linie U5. Neben geochemischen Messungen direkt vor Ort beziehen sie auch vorhandene Datenbanken ein – etwa die Bohrkerndatenbank des Wiener Brückenbaus und Grundbaus sowie Daten der Wiener Stadtarchäologie. "Zudem stützen wir uns auf die Auswertung historischer geologischer Daten", ergänzt Wagreich.

Die Grabungen im Zuge der Bauarbeiten für die neue U-Bahnlinie U5 werden gleichzeitig für Forschungszwecke verwendet. Im Bild: verschiedene Bohrkerne der anthropogenen Anschüttungen in Wien, U5-Trasse (© M. Wagreich)

Verteilung in 3D

Das Projektteam unterteilt die anthropogenen Ablagerungen Wiens grob in mindestens drei zeitliche Horizonte: Ablagerungen aus dem Mittelalter, jene bis 1945 und jene aus der Nachkriegszeit bis heute. "Phasenweise wird die anthropogene Decke nur einen Meter dick sein. Dort, wo es römische Siedlungen gab, sind es vielleicht drei bis vier Meter", schätzt Wagreich. Die aktuelle Verteilung der anthropogenen Ablagerungen und ihre räumliche Ausbreitung über die Zeit sollen in 3D-Modellen visualisiert werden.

Künstlerische Forschung

Mit an Bord des Projektteams ist auch Katrin Hornek von der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Sie reflektiert aus künstlerischer Perspektive sich wandelnde Vorstellungen und Verbindungen von Kultur und Natur vor dem Hintergrund aktueller Anthropozän-Debatten. Im Rahmen des Projekts erarbeitet sie einen Essayfilm, der den Digitalisierungsprozess des wachsenden Wiener Untergrundes in eine 3D-modellierte Landschaft begleitet. Dabei folgt sie dem Materialfluss der physischen Probe zum Datensatz, um die Berührungspunkte zwischen analogen und digitalen Ablagerungen und Schichtungen sowie deren potenzielle Wechselwirkung nachzuzeichnen.

Wann beginnt das Anthropozän?

Das "Anthropozän" als neues vom Menschen geprägtes Erdzeitalter wird längst nicht mehr nur im Zirkel der GeologInnen debattiert. Auch für eine breitere Öffentlichkeit ist das Zeitalter, das im erdwissenschaftlichen Zusammenhang für die menschlichen Eingriffe in geologische Prozesse und Ablagerungen steht, bereits angebrochen. "Dabei gibt es aus streng geologischer Sicht noch gar keine Einigung darüber", betont Wagreich, u.a. Mitglied der Arbeitsgruppe "Anthropozän" der Internationalen Kommission für Stratigraphie (ICS). Das ForscherInnenteam prüft nach wie vor, ob und wann eine Festlegung des Anthropozäns sinnvoll wäre.


Michael Wagreich zur aktuellen Semesterfrage: "Wir können das Klima nicht vor Veränderungen schützen, Klimaschwankungen sind im System Erde vorgesehen. Die Debatte über das Anthropozän zeigt aber, dass der anthropogene Klimawandel schon stattgefunden hat und in der Erdgeschichte angekommen ist. Seit etwa den 1950er Jahren ändert sich das System Erde im beschleunigten Ausmaß, und diese Änderungen sind auch nicht mehr zu stoppen. Wir als Menschheit müssen uns anpassen. Wir werden nachhaltiger agieren und möglichst ausgeglichene Stoffkreisläufe z.B. über Recycling, Ressourcenschonung und Wiederverwertung schaffen müssen. Wir können das Klima zwar nicht retten, aber uns selbst vor dem nächsten großen Aussterben bewahren."

Plutoniumisotope als Marker

"Nach derzeitigem Stand spricht viel dafür, den Beginn des Anthropozäns an die Atombombenexplosion 1945 und die Atombombenversuche in den Folgejahren zu knüpfen", so der Experte. Dadurch seien artifizielle radioaktive Isotope in die Atmosphäre gelangt, die sich weltweit verbreitet haben. So sollten sich etwa auch Plutoniumisotope als Marker für die Atombombenexplosionen in Japan im Jahr 1945 im Untergrund Wiens festmachen lassen. Die Frage, wann das Anthropozän genau beginnt und wie es am besten definiert werden kann, müsse jedenfalls noch beantwortet werden, so Wagreich. "Die Kartierung der anthropogenen Ablagerungen Wiens kann dabei helfen." (ly)

VERANSTALTUNGSTIPPS: Im Rahmen der Langen Nacht der Forschung am Freitag, 13. April, präsentiert Michael Wagreich am Schottentor seine Forschung. Unter dem Thema "Willkommen im Anthropozän - der Mensch prägt den Planeten" gibt er Antworten auf die Fragen "Was ist das Anthropozän? Und wo in Wien gibt es ein Anthropozän?" Mithilfe von Videos, eines Bohrkerns und Artefakten wird das Anthropozän "angreifbar".
Am Dienstag, 17. April, veranstaltet der Forschungsverbund Umwelt der Universität Wien in Kooperation mit dem Naturhistorischen Museum eine Podiumsdiskussion zum Thema "Das Ende der Natur? Leben im Anthropozän". Michael Wagreich hält den Impulsvortrag; im Anschluss diskutieren ExpertInnen, wie die Zukunft auf dem Planeten Erde angesichts der alarmierenden Bestandsaufnahme ausschauen kann.

Das WWTF-Projekt "The Anthropocene Surge - evolution, expansion and depth of Vienna's urban environment" läuft von 1. Jänner 2018 bis 31. Dezember 2021 unter der Leitung von ao. Univ.-Prof. Dr. Michael Wagreich vom Department für Geodynamik und Sedimentologie der Universität Wien. MitarbeiterInnen sind Mag. Mag. Kira Lappé und Maria Meszar vom Department für Geodynamik und Sedimentologie. Projektpartnerin ist Univ.-Ass. Mag. art. Katrin Hornek von der Abteilung für Ortsbezogene Kunst der Universität für angewandte Kunst Wien. Die Erstellung der 3D-Modelle der anthropogenen Ablagerungen Wiens erfolgt zudem über die finanzielle Unterstützung der Fakultät für Geowissenschaften, Geographie und Astronomie der Universität Wien und die erfolgreiche Beantragung eines "Emerging Field Grant".