Evolutionsforschung: Es war der Bauch
| 27. Januar 2014Alle Wirbeltiere, die über einen Kiefer verfügen, haben auch vier Flossen oder Gliedmaßen. Ein Forschungsteam der Universität Wien und des Konrad-Lorenz-Instituts hat herausgefunden, warum sich unsere frühesten Vorfahren mit der gleichbleibenden Anordnung von zwei Paar Gliedmaßen zufrieden gaben.
Im Laufe der Evolution hat sich die Anordnung von Flossen, Flügeln, Armen und Beinen verändert. Um den Ursprung der paarigen Gliedmaßen bei den Kiefermäulern zu erklären, entstanden – wie bei vielen ungeklärten Fragen in der Evolutionsbiologie – mehrere hypothetische Modelle. Kiefermäuler – im Fachjargon Gnathostomata – sind alle Tiere mit Rückgrad und Kiefer, sowohl die lebenden als auch die ausgestorbenen.
"Ausgenommen davon sind Neunaugen und Schleimaale. Obwohl diese beiden Fischarten weder über Kiefer noch paarige Flossen verfügen, sind bei ihnen vom Rücken bis zum Schwanz entlang der Mittellinie Rückenflossen vorhanden", sagt Brian Metscher vom Department für Theoretische Biologie der Universität Wien. Jeder Erklärungsansatz, warum das so ist, muss nicht nur die fossilen Belege berücksichtigen, sondern auch die Feinheiten der frühen Entwicklung von Flossen und Gliedmaßen.
Gliedmaßen am Anfang und am Ende
"Wir haben uns für unsere Untersuchung auf zahlreiche Arbeiten der molekularen Embryologie sowie auf Forschungsergebnisse aus der Paläontologie und der klassischen Morphologie gestützt. Es ging uns darum zu erklären, wieso der Wirbeltier-Embryo Gliedmaßen-Ansätze an jeder Seite bildet, und zwar jeweils ein Paar am Anfang und am Ende der Körperhöhle", erklärt Laura Nuño de la Rosa, Hauptautorin der Studie und Postdoc am Konrad-Lorenz-Institut in Altenberg.
Embryo teilt sich in drei Zellschichten
Das neue Modell enthält frühere Forschungsergebnisse. Beruhend auf Genexpression und der Interaktionen zwischen verschiedenen Geweben, aus denen sich ein Wirbeltierembryo entwickelt. In den ersten Wochen seiner Entwicklung trennt sich ein Embryo in drei Zellschichten: Das obere oder erste Keimblatt des Embryoblasten (Ektoderm) – die außen liegende Zellschicht, aus der Haut und Nervensystem entstehen, das innere Keimblatt (Endoderm), das später den Verdauungstrakt bildet, und das mittlere Keimblatt (Mesoderm), das für Muskeln, Knochen und andere Organe verantwortlich ist. Das frühe Mesoderm spaltet sich wiederum in zwei Schichten, wobei die eine Schicht das Innere der Körperhöhle abdichtet und die andere die Außenseite des Darms bildet.
Gliedmaßen werden verdrängt
"Wir haben herausgefunden, dass sich Flossen oder Gliedmaßen nur an jenen Stellen entwickeln, wo die beiden mesodermalen Schichten ausreichend voneinander getrennt sind und wo sie mit ektodermalen Gewebe interagieren können. Und das ist an den beiden Enden des Darms – beim Mund und beim After – der Fall. Dazwischen ist für die Entwicklung von Flossen oder Gliedmaßen kein Platz. Denn die beiden mesodermalen Schichten verlaufen extrem dicht nebeneinander – da ist nur eine ganz schmale Trennungslinie vorhanden. Wir denken, dass diese beiden Schichten bei der Darm-Entwicklung sogar zusammenspielen", erklärt der Theoretische Biologe Brian Metscher.
"Weil wir einen Bauch haben"
Nach dem hinteren Ende des Verdauungstraktes, der Analöffnung, treffen die mesodermalen Schichten beim Schwanzansatz zusammen. Dort, wo sich die Körperwand schließt, bildet sich eine einzige mittlere Flosse. Vorne in der Mitte, entlang des sich entwickelnden Darms schließt sich die Körperwand nicht vollständig. Deshalb entstehen gepaarte Ansätze für Flossen oder Gliedmaßen links und rechts der Mittellinie anstelle der mittleren Flosse. "Wir verfügen also über vier Gliedmaßen, weil wir einen Bauch haben", ist sich Laura Nuño de la Rosa sicher.
Modell für weitere Forschung
Die aktuell vorliegende Arbeit ist ein Beitrag zur laufenden Diskussion über die Entwicklung der verschiedenen embryonalen Schichten und Strukturen sowie über neue Ansätze in der Evolutionstheorie. Um Entwicklung und Evolution wirklich erfassen zu können, ist es wichtig, die embryonale Zellstrukturierung und die Wechselwirkungen der einzelnen Zellschichten zu verstehen – es genügt nicht, nur die Gene zu entschlüsseln. "Die wichtigste Funktion eines solchen Modells ist, einen folgerichtigen Rahmen zu schaffen – für weitere spezifische, darauf aufbauende Hypothesen. Diese können dann mit molekularen und anderen Labormethoden getestet werden", so Brian Metscher abschließend. (af)
Das Paper "The Lateral Mesodermal Divide: An Epigenetic Model of the Origin of Paired Fins" (AutorInnen: Laura Nuño de la Rosa, Gerd B. Müller, Brian D. Metscher) erschien im Jänner 2014 in Evolution & Development.