Fritten, die nach Freiheit riechen
| 16. Mai 2018Fermentierte Zuckerrüben, Holzkohle, Pommes: Was im letzten Jahrhundert in der Lubliner Luft lag, beschäftigt Kulturwissenschafterin Stephanie Weismann in ihrem aktuellen Projekt. Eine olfaktorische Biografie der Stadt Lublin soll historische Umbrüche und Kontinuitäten in Ostmitteleuropa nachzeichnen.
Der süßlich-faulige Geruch von Rüben – das kommt vielen StadtbewohnerInnen als erstes in den Sinn, wenn sie nach einem typisch "lublinesken" Geruch gefragt werden. Das große Zuckerrübenwerk prägte über mehr als 100 Jahre die Geruchskulisse der polnischen Stadt Lublin. Heute ist es verschwunden. Es fiel nicht – wie viele andere staatlich betriebene Industriezweige der Region – der Wende von 1989 zum Opfer, sondern scheiterte 2004 an EU-Regulierungen.
Wie die Geruchslandschaft Lublins Umbrüche und Kontinuitäten der Region reflektiert, ist Thema von Stephanie Weismanns aktuellem Forschungsprojekt – Teil des "Research Cluster for the Study of East Central Europe and the History of Transformations" (RECET) an der Universität Wien. Weismann versteht ihre Arbeit als phänomenologische Annäherung an die Geschichte der Region: "Was riecht und wer riecht, erzählt einiges über soziokulturelle, ökonomische und politische Verhältnisse und Befindlichkeiten."
Olfaktorisches Othering
Die Idee einer ostmitteleuropäischen Geruchstopografie kam ihr als Doktorandin bei ihren Recherchen zum Habsburgischen Galizien (zum Doktoratskolleg Galizien): "In Reiseberichten über das Kronland wurde der 'rückständige' Osten auch olfaktorisch stereotypisiert und als 'anders' markiert: Juden stanken nach Knoblauch, Ukrainerinnen nach Schafspelz, die polnischen Gutsherren umgab eine Aura von Verfall. Diese Zuschreibungen fand ich spannend, da wollte ich weiterforschen." Gesagt, getan: Mit einem Back-to-Research Grant der Universität Wien ging sie nach der Karenz ihr Forschungsvorhaben an. Sie war 2017 "POLONEZ"-Fellow (NCN) am Institut für Kulturwissenschaften der Marie-Curie-Skłodowska-Universität in Lublin, ehe sie im April 2018 mit einem Hertha-Firnberg-Stipendium (FWF) an ihre Alma Mater zurückkehrte.
Wissenschaft im Herzen der Stadt
Das Institut für Osteuropäische Geschichte ist eines von 16 Instituten der Universität Wien, die am Campus angesiedelt sind. Der 96.000m² große Campus auf dem Areal des ehemaligen Allgemeinen Krankenhauses wurde 1998 offiziell eröffnet. Anlässlich des 20-Jahr-Jubiläums präsentiert die Universität Wien am Campus aktuelle Wissenschaft in unterschiedlichen Formaten.
Die große Geschichte des 20. Jahrhunderts im Kleinen erforschen
Warum ausgerechnet Lublin? Weismann war auf der Suche nach einer "durchschnittlichen" Stadt, die exemplarisch für die verschlungene Geschichte Ostmitteleuropas steht. Gefunden hat sie Lublin: Mit heute 340.000 EinwohnerInnen genau zwischen Warschau und L'viv gelegen, ist Lublin die neuntgrößte Stadt Polens.
Lublin durchlebte die "typischen" Etappen einer ostmitteleuropäischen Stadtbiografie: Anfang des 20. Jahrhunderts war sie Teil Kongresspolens unter russischer Herrschaft, im Ersten Weltkrieg dann von Österreich-Ungarn besetzt. In der Zwischenkriegszeit avancierte Lublin mit der Eröffnung seiner Katholischen Universität und der größten Jeschiwa (Talmudschule) Europas zur Universitätsstadt und trug den Beinamen "Jüdisches Oxford". Ab 1939 standen Lublin und seine Umgebung unter nationalsozialistischer Besatzung, bis 1942 wurden fast alle jüdischen EinwohnerInnen ermordet. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann auch in Lublin die klassische sozialistische Aufbaugeschichte: Die einstige, von Kleinbetrieben geprägte Provinzstadt eines überwiegend agrarischen Raums wurde zur sozialistisch-industriellen Musterstadt transformiert.
Transformation liegt in der Luft
In den 1980er Jahren begannen Streiks und der Aufstieg der Solidarność-Bewegung bis hin zur "Wende" 1989: vom kommunistischen Regime zur demokratischen Republik. "Diese Veränderung brachte eine Vielzahl an neuen Aromen mit sich", berichtet Weismann: "Westliche Kosmetika – vom Haarshampoo bis zum Deodorant – und Waschmittel mit dem Duft 'westlichen' Lifestyles galten als Statussymbol. Der spezifische Geruch von McDonald’s symbolisierte dann letztendlich auch eine neue Freiheit. Mit dem Geruch von Fritten war man sozusagen im Westen angekommen."
Gewisse Aromen, die das kollektive Gedächtnis vom sozialistischen Alltag prägten und zum Teil noch heute Anlass für (N)Ostalgie geben, gingen in diesen Wendejahren verloren: der omnipräsente Geruch der Milchbars oder des Parfums "Być Może", das aufgrund der mangelnden Auswahl im kommunistischen Warenregal zum "Duftcharakteristikum des internationalen Frauentags" wurde: "Nahezu alle Lublinerinnnen wurden am 8. März mit diesem Duft beschenkt." Die radikale Veränderung der Geruchslandschaft vor allem durch Konsumprodukte, gerade in den Jahren um 1989, zeugt von den tiefgreifenden sozio-politischen Umbrüchen in der Region.
Geruchsquellen auf der Spur
Auf der Suche nach Geruchsreferenzen wurde Weismann unter anderem im Lubliner Staatsarchiv fündig: Dort geben in den Akten der Sanitärkommission Inspektionsberichte sowie Beschwerdebriefe Aufschluss über die damalige Geruchskulisse.
Ich bitte um Verständnis für eine arme Frau, die ständig an entsetzlichen Kopfschmerzen leidet und jegliche Luftverunreinigung schadet mir sehr. In meinem kritischen Zustand wünschte ich, zumindest die Luft aus dem Hof wäre etwas reiner. Jedoch hält unsere Hausmeisterin zwei große Schweine.
Mit diesen Worten beschwerte sich 1931 eine Anrainerin bei der Sanitärkommission. "In der Zwischenkriegszeit stieg die Sensibilität der Stadtbevölkerung für Hygienefragen und unangenehme Gerüche. Besonders "ländliche" Gerüche, wie etwa von Tierhaltung im städtischen Innenhof, initiierten eine neue (urbane) Beschwerdekultur. Grundsätze des nachbarschaftlichen Zusammenlebens, neue Ansprüche an Wohnhygiene oder die Forderung nach Frischluft wurden plötzlich Thema", erklärt Weismann.
Der Geruch der Oppositionsjahre
Doch nicht nur die Archivdokumente der Sanitärkommission, auch lokale Tageszeitungen und deren Kolumnen zum Zustand der Stadt sowie Ego-Dokumente wie Memoiren, Tagebucheinträge und narrative Interviews dienen Weismann als Anhaltspunkt für ihre olfaktorische Vermessung der Region. "Gerüche sind unübertroffene Erinnerungstrigger. Auf die Frage nach Geruchsassoziationen kommt eine Unmenge an Geschichten zutage". So erinnerte sich ein Zeitzeuge an den Geruch von Druckerchemikalien im Stiegenhaus – die Geruchslandschaft der Oppositionsbewegung der 1970/80er Jahre.
Diese Druckermaschinen stanken entsetzlich. [...] Wenn wir in unseren Wohnungen druckten, konnte man den Geruch deutlich im Stiegenhaus spüren. [...] Wenn es nach denaturat roch, hieß das entweder, hier hausen Alkoholiker oder aber, es wird illegal gedruckt.
Vom Gemischtwarenladen zum desodorierten Supermarkt
Um ihre Forschung greifbarer zu machen, konzentriert sich Weismann auf ausgewählte Fallstudien und kombiniert diese mit Ansätzen aus der Mikro- und Lebensweltgeschichte. Eine olfaktorisch interessante Geruchstransformation durchlebte etwa das Lebensmittelgeschäft. "Im Gemischtwarenladen der Zwischenkriegszeit herrschte ein olfaktorisches Chaos, es roch nach Lampenöl, Tee, Hering und Seife. In der kommunistischen Ära dünsteten die berühmten leeren Regale vor allem Mangel aus. Der moderne Supermarkt verfügt zwar über ein reiches, aber desodoriertes Angebot, und ist geprägt von artifiziellem Einheitsduft."
Andere case studies kreisen um die Geruchslandschaft des städtischen Innenhofs oder die (geruchgeschichtliche) Transformation des Stadtbezirks "Podzamcze": Das jüdische Viertel war stets ein olfaktorischer Krisenherd, nach seiner gewaltsamen 'Bereinigung' 1943 wurde das Areal später zum kommunistischen Repräsentationsplatz umgewidmet.
Für Weismann eine "gute Abwechslung zur akademischen Schreibtischarbeit": Geruchsspaziergänge mit der lokalen Bevölkerung Lublins. (© Szymon Kasprowicz)
Was ist deine "Smell-Story"?
Das vergangene Jahr in Lublin hat Weismann genutzt, um sich durch Hinterhöfe zu schnuppern, in Archiven zu stöbern und ihr Wissen zu teilen – auch außerhalb der akademischen Welt. In geführten Stadtspaziergängen wandelte sie mit der lokalen Bevölkerung auf den historischen Geruchsspuren der Stadt und veranstaltete Wahrnehmungsspaziergänge, um gemeinsam die aktuellen Aromen der Stadt zu erfassen. Weismanns jüngstes Projekt: Über ihre Website startet sie einen Aufruf nach persönlichen "Smell-Stories" von LublinerInnen. "Mich interessiert, wie die BewohnerInnen ihre Stadt wahrnehmen und mit welchen Geruchsmarken ihre persönlichen Stadtgeschichten verbunden sind", so Weismann. Auf die eingesendeten Geruchserzählungen darf man gespannt sein. (hm)
Das Projekt "The Smellscapes of Lublin. An Olfactory Urban History of the 20th Century in East Central Europe" von Mag. Dr. Stephanie Weismann ist am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien angesiedelt und läuft vom 1. April 2018 bis zum 30. September 2021. Gefördert wird das Projekt mit einem Hertha-Firnberg-Stipendium des FWF.