Heute schon Mozart gelesen?

Eine Oper ist wie ein Buch. Wie, eine Oper ist doch Musik? Was heute selbstverständlich ist, war nicht immer so. In Opernkritiken der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts stand das Libretto im Fokus. Wieso sich das änderte, untersucht Musikwissenschafterin Andrea Horz in einem aktuellen FWF-Projekt.

Wolfgang Amadeus Mozart gilt gemeinhin als musikalisches Genie, Goethe bezeichnete ihn sogar als den größten Komponisten aller Zeiten. Auch heutzutage werden Mozarts Opern, Musikstücke und Orchesterwerke immer noch aufgeführt und inszeniert. Dazu gehört beispielsweise die Oper "Entführung aus dem Serail", die 1782 am Burgtheater Premiere feierte. 2014/15 war sie in Deutschland die zehnt-häufigste aufgeführte Oper.

"Nicht einmal die Noten kenne ich"

Doch nicht nur heutzutage, auch vor über 200 Jahren war die "Entführung aus dem Serail" ein Kassenschlager. 1787 besucht ein anonymer Musikpublizist eine Aufführung des Stücks und schreibt anschließend eine Kritik im "Magazin für Musik". 24 Seiten, in denen er sich mit der Musik, die ungewohnte und neuartige Töne anschlug, auseinandersetzt? "Nein, Mozarts Musik findet lediglich in zwei, drei Absätzen eine – wenn auch äußerst lobende – Erwähnung. Die restlichen Seiten beziehen sich auf das Libretto, also den Operntext", erklärt Musikwissenschafterin und Hertha-Firnberg-Projektleiterin Andrea Horz. Denn so betont der Kritiker in seinem Artikel:

Ich bin kein eigentlicher Kenner der Musik; ich verstehe von den eigentlichen Kunstregeln der Composition ganz und gar nichts; nicht einmal die Noten kenne ich.

Libretto statt Notentext

Eine solche Opernkritik war im 18. Jahrhundert kein Einzelfall: "Anders als heutzutage wurden Opern primär als literarische Form und nicht als musikalische Gattung diskutiert. Das änderte sich erst gegen Mitte bis Ende des 18. Jahrhunderts", weiß Andrea Horz. Im Projekt geht sie den Ursachen dieser Diskursverschiebung auf den Grund. Was führte dazu, dass wir heutzutage Opern als musikalische und nicht mehr als literarische Gattung verstehen? 

Quelle: Musikzeitschriften

Zur Beantwortung der Frage analysiert Andrea Horz rund 500 Musikzeitschriftenartikel des 18. Jahrhunderts. Und kann dabei glücklicherweise auf Vorarbeiten von KollegInnen aufbauen: "Ich arbeite mit einer Datenbank, in der sämtliche Musikartikel des 18. Jahrhunderts erfasst sind. Das ist eine hervorragende Materialbasis, denn anders wäre es in den drei Jahren Projektlaufzeit nicht zu schaffen", berichtet die Wissenschafterin, die schon immer ein Interesse an den Prozessen hatte, die sich um aufgezeichnete Musik entwickelten und entwickeln.

"Hertha Firnberg" ist ein Postdoc-Programm des FWF zur gezielten Karriereförderung von Nachwuchswissenschafterinnen. Mit den Stipendien erhalten exzellente junge Forscherinnen die Möglichkeit, ihr Projekt im Rahmen einer finanzierten Stelle an der jeweiligen Forschungsstätte zu realisieren. Mehr Informationen

Neue Erkenntnisse entgegen der Forschungsmeinung

Wieso stand also damals das Libretto und nicht der Notentext im Mittelpunkt? In der Forschung gab es dafür bislang zwei Thesen, erklärt Andrea Horz – und widerlegt mit ihren neuen Ergebnissen beide. Die erste These lautet, dass der Fokus auf das Libretto dem Mangel an gedruckten Operntexten geschuldet sei, denn der Druck von Notentexten setzte sich im deutschsprachigen Raum erst gegen Mitte bis Ende des Jahrhunderts durch. Die zweite These besagt, dass damals weder Kritiker noch die bürgerliche Schicht Interesse an und Zugang zu Opernaufführungen gehabt haben. Dass beides nicht haltbar ist, zeigt Andrea Horz unter anderem am Beispiel des Hamburger Komponisten und Musikschriftstellers Johann Mattheson auf, der im 18. Jahrhundert auch Magazine wie z.B. die erste deutsche musikalische Fachzeitschrift "Critica musica" herausgab.

Johann Mattheson (1681-1764) war Sänger, Musiktheoretiker, Schriftsteller, Komponist und Diplomat. Obwohl selbst auch Opernkomponist und u.a. Kantor am Hamburger Dom, besprach auch er Opern primär als literarische Form. (Foto: Johannes Mattheson, Kupferstich von Christian Fritzsch nach einem Bild von Johann Salomon Wahl, 1769/Wikipedia)

"Außerdem rezensiert Mattheson beispielsweise 1722 einen Musiktrakat und widerlegt die Thesen des Autors mithilfe von Notenbeispielen aus Opern, die er auch in den Rezensionsartikel einfügt. Er hatte also nachweislich sowohl Zugang zu Opern als auch zu Operntexten", erläutert die Musikwissenschafterin. Weitere Zeitschriftenartikel zeigen, dass auch die LeserInnen Interesse an dem Thema Opern gehabt haben müssen, denn es erschienen immer wieder Berichte über Aufführungen und bekannte SängerInnen.

London und Paris

Um ihr Ergebnis zu untermauern, besuchte Andrea Horz kürzlich für vier Monate die British Library, das King's College und die Gerald Coke Handel Collection in London. "Ich konzentriere mich in meinem Projekt zwar auf den deutschsprachigen Raum, aber die Außenperspektive lieferte mir einige wichtige Anhaltspunkte", sagt sie. Denn anders als im deutschsprachigen Raum wurde in London und Paris im 18. Jahrhundert die Musik der meisten aufgeführten Opern gedruckt. Doch auch dort stand vor allem das Libretto und nicht die Musik im Mittelpunkt von Musikkritiken, fand die sympathische Wissenschafterin heraus.

Der Umstand, ob eine Oper damals gedruckt oder handschriftlich vorlag, hatte Einfluss auf die Musikrezensionen des 18. Jahrhunderts und in der Folge auch auf unser heutiges Musikverständnis, denn: "Im 19. Jahrhundert wurden die Opern des 18. Jahrhunderts oft als veraltet angesehen und vormals hochgeschätzte Komponisten gerieten in Vergessenheit. Für die Kanonisierung eines Komponisten waren die zeitgenössischen Rezensionen ebenso wichtig wie für die spätere Musikgeschichtsschreibung", erklärt Andrea Horz, die Anfang Februar 2017 eine Tagung zu opernbezogenen Musikdrucken im deutschen Sprachraum des 18. Jahrhunderts veranstaltete. (Fotos: Universität Wien)

Forschungsdebatte

Ein weiterer Hintergrund des Projekts liegt in einer methodischen Forschungsdebatte begründet, die in den 1990er/2000er Jahren die Musikwissenschaft aufrüttelte. So kritisierte die amerikanische Opernforscherin Carolyn Abbate, dass in der Musikwissenschaft der Notentext als unveränderliches Kunstwerk und nicht das Erleben der Aufführung im Mittelpunkt stehe.

"Ich gehe daher zu den Ursprüngen der Musikkritik zurück und schaue mir an, wie es zu dieser Verengung auf die Vorstellung einer Oper als geschlossenes Kunstwerk kam. Im 18. Jahrhundert formierte sich das Sprechen über Musik und insbesondere über Opern, das auch heutzutage noch unser Verständnis von Musik beeinflusst", so Andrea Horz. Schließlich führte es dazu, dass wir Opern von Mozart und anderen KünstlerInnen heute primär hören und nicht mehr lesen. (mw)

Das Projekt "Aufführung oder Notentext? Opern im Kontext der deutschen Musikpublizistik des 18. Jahrhunderts" von Dr. Andrea Horz, M.A. vom Institut für Musikwissenschaft wird im Rahmen des Hertha-Firnberg-Programms des FWF gefördert und läuft von 2015 bis 2018.