Inbesitznahmen des Wiener Parlaments

Das Wiener Parlament

Das Wiener Parlamentsgebäude an der Ringstraße war und ist ein zentraler Ort der Politik. ZeithistorikerInnen der Uni Wien haben erstmalig die Geschichte des Gebäudes zwischen 1933 und 1956 aufgearbeitet. uni:view sprach mit Projektmitarbeiterin Verena Pawlowsky über die Ergebnisse der Studie.

uni:view: Was hat Sie an der Aufarbeitung der Geschichte des Parlamentsgebäudes gereizt?
Verena Pawlowsky:
Gereizt hat uns – neben mir sind das Bertrand Perz, der Projektleiter, sowie Ina Markova – die Idee, über ein Gebäude eine Geschichte zu erzählen. Dass es sich in diesem Fall noch dazu um ein zentrales Bauwerk der Republik handelt, war besonders verlockend.

Das Projektteam vom Institut für Zeitgeschichte (v.l.n.r.): Ina Markova, Verena Pawlowsky und Bertrand Perz. (© privat)

uni:view: Die Studie wurde im Auftrag der Parlamentsdirektion durchgeführt. Wie kam die Zusammenarbeit zu Stande und wie war die Unterstützung seitens des Parlaments?
Pawlowsky:
Das Parlament ließ schon Anfang der 2010er-Jahre die Bestände der Parlamentsbibliothek im Rahmen eines Provenienzforschungsprojekts untersuchen: Es gab in der Bibliothek viele Bücher aus der Zeit, als das Parlamentsgebäude als Gauhaus genutzt worden war. In diesem Zusammenhang entstand die Idee, die Geschichte des Hauses in der NS-Zeit, aber auch in der Zeit der autoritären österreichischen Regierung davor zu untersuchen. Die Parlamentsdirektion trat deshalb an Bertrand Perz vom Institut für Zeitgeschichte mit der Bitte heran, ein entsprechendes Forschungsprojekt vorzuschlagen. Die verschiedenen Abteilungen des Parlaments haben das Projekt immer voll mitgetragen und unterstützt.

uni:view: Wieso haben Sie für die Studie die Jahre 1933-1956 gewählt?
Pawlowsky:
1933 wurde als Beginn gewählt, weil die Ausschaltung des Parlaments im März 1933 das Ende des Parlamentarismus in Österreich markiert. 1956 als Endpunkt, weil mit der ersten Nationalratsitzung im neuerrichteten Saal im Juni 1956 der Wiederaufbau vorerst abgeschlossen war. Wir wollten jedenfalls auch die Phase der Wiederaneignung des Hauses durch das demokratische Österreich mit in den Blick nehmen.

Auf dem farbigen Vorsatz eines Schulbuches aus dem Jahr 1942 ist das beflaggte Gauhaus unter zahlreichen anderen Wiener Sehenswürdigkeiten zu sehen. (© Bei uns in Wien. Leselernbuch für die ersten Klassen der Volksschulen des Reichsgaues Wien, 1. Teil, hg. v. Franz X. Langer, Wien 1942)

uni:view: Was haben Sie für die einzelnen Zeiträume herausfinden können?
Pawlowsky:
Für die Jahre 1933 bis 1938, als das Parlamentsgebäude als Haus der Bundesgesetzgebung genutzt wurde, lässt sich vor allem feststellen, dass es an Bedeutung verlor. Die Entscheidungen traf die Regierung (auf dem Ballhausplatz) und nicht das "ständestaatliche" Pseudoparlament. Es fanden kaum Sitzungen statt, das Haus verwaiste. 

In den Jahren 1938 bis 1940 war das Haus Sitz des Reichskommissars für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich. Josef Bürckel richtete hier seine Dienststelle ein, organisierte von hier aus die Volksabstimmung, mit der der "Anschluss" nachträglich legitimiert wurde, und führte in der Folge von hier aus die Eingliederung durch. 1940 endete das Amt des Reichskommissars, Bürckel wurde in seiner Funktion als Reichsstatthalter und Wiener Gauleiter von Baldur von Schirach abgelöst, der das Haus am Ring zum Gauhaus – und damit zum Sitz der Wiener NSDAP – machte. 1945 bis 1956 sind die Jahre der Wiederaneignung und des Wiederaufbaus des Hauses.

uni:view: Sind Sie bei der Recherche auf etwas besonders Überraschendes gestoßen?
Pawlowsky:
Überraschend war, dass das Parlamentsgebäude in der NS-Zeit so intensiv benützt und frequentiert wurde. Wahrscheinlich gingen nie zuvor derart viele Personen hier ein und aus.
Überraschend war auch, dass das NS-Regime in die Bausubstanz weniger eingegriffen hatte, als man vielleicht annehmen hätte können. Die Aneignung des Hauses verlangte keine Reinigung von "demokratischen Symbolen" bzw. waren diese letztlich auch sehr marginal: Herrschaftssymbole, wie etwa die Adler auf den Fahnenmasten, wurden natürlich ausgetauscht.

uni:view: Was waren Schwierigkeiten bei dem Projekt und wie haben Sie diese überwunden?
Pawlowsky:
Die Schwierigkeit des Projekts lag in der extrem heterogenen Quellenlage. Die benutzten Dokumente – teilweise nur Splitterbestände und einzelne Hinweise – sind auf zahlreiche Archive und Institutionen verteilt. Die Recherche war sehr zeitaufwendig. Erst in der Gesamtschau gelang es, eine stringente Erzählung zu schaffen.

Das Buch "Inbesitznahmen. Das Parlamentsgebäude in Wien 1933–1956" der ZeithistorikerInnen Bertrand Perz, Verena Pawlowsky und Ina Markova erschien heuer im Residenz Verlag. (© Residenz Verlag)

uni:view: Wieso haben Sie für das Buch den Titel "Inbesitznahmen" gewählt?
Pawlowsky:
Der Begriff versucht der Tatsache gerecht zu werden, dass jeder Gebrauch des Hauses eine Form der Aneignung ist. Der Begriff will den viermaligen Nutzungswechsel mit einem Ausdruck in den Blick nehmen: Nutzung durch den "Ständestaat", durch Bürckels Anschlussbehörde, durch die NSDAP und durch das demokratische Österreich nach 1945.

uni:view: Was sind Ihre Ergebnisse zusammengefasst?
Pawlowsky:
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Akteure über alle Phasen der Geschichte der Symbolkraft des Hauses bewusst waren, dass sich die autoritären Regime mit dieser Symbolkraft allerdings nur am Rande auseinandersetzten und im Speziellen das NS-Regime einfach eine Umdeutung vornahm, während demokratische Systeme ganz explizit mit der Symbolkraft operierten. Neben der Tatsache, Symbolbau zu sein, kennzeichnete das Parlamentsgebäude aber eine reichhaltige Alltagsinfrastruktur: Es gab eine eigene Gastwirtschaft, eine Trafik, einen Friseurladen, Bäder, Dienstwohnungen und ein hochmodernes Heizungs- und Ventilationssystem. Auch diese Details sind Teil der Geschichte des Hauses.

uni:view: Was können wir aus der Geschichte für unsere heutige Zeit lernen?
Pawlowsky:
Die Studie wurde nicht in einer didaktischen Absicht geschrieben, trotzdem lässt sich natürlich Verschiedenes aus den Ergebnissen ersehen. Als Beispiel sei die perfide Umdeutung durch die Nationalsozialisten genannt. Sie brachten nach dem "Anschluss" am Mittelportikus ein Transparent an, auf dem – an den ursprünglichen Zweck des Hauses anknüpfend – "Das Volk regiert." stand. Freilich war mit dem Volk nicht das Staatsvolk, sondern die rassisch reine "Volksgemeinschaft" gemeint. Und nicht diese regierte, sondern die NSDAP, die beanspruchte, dieses "Volk" zu vertreten.

uni:view: Wem würden Sie die Lektüre Ihres Buches ans Herz legen?
Pawlowsky:
Das Buch besteht aus einer Vielzahl kleiner Kapitel, die man auch einzeln lesen kann. Es wendet sich durchaus an ein breites Publikum und ist zugleich eine wissenschaftlich fundierte Studie. Personen, die sich für Wiener Stadtgeschichte, für die Zeit der Diktaturen, für das Alltagsleben im Krieg oder die Mühen des Wiederaufbaus interessieren, werden hier fündig werden.

uni:view: Vielen Dank für das Interview! (mw)

Das Projekt "Inbesitznahmen. Das Parlamentsgebäude in den Diktaturen zwischen 1933 und 1945" lief vom 1. Oktober 2015 bis 28. Februar 2018 und wurde vom Österreichischen Parlament finanziert. Projektleiter war Univ.-Prof. Doz. Dr. Bertrand Perz, Projektmitarbeiterinnen Mag. Dr. Verena Pawlowsky und Dr. Ina Markova.