Komplexes gemeinsam entwirren
| 10. Oktober 2018Im Spezialforschungsbereich der Universität Wien "Taming Complexities" widmen sich ForscherInnen der Fakultät für Mathematik dem Lösen partieller Differentialgleichungssysteme – über die Grenzen des Fachbereichs hinaus. Von der Theorie bis zur Analyse wird Forschung so neu vernetzt.
Findet im menschlichen Körper eine Immunreaktion statt, kriechen weiße Blutkörperchen dorthin, wo sie gebraucht werden. Wie aber lässt sich diese Bewegung der Zellen mathematisch beschreiben? Die Lösung lautet "partielle Differentialgleichungen". Zellenbewegungen lassen sich, so wie viele physikalische und biologische Phänomene, nur auf diese Weise beschreiben. Ein neuer Spezialforschungsbereich an der Fakultät für Mathematik der Universität Wien widmet sich diesen komplexen Gleichungen und verbindet MathematikerInnen innerhalb und außerhalb der Fakultät.
"Jede und jeder von uns hat einen anderen Fokus. Das hilft dabei, Anwendungen und Modelle für unsere komplexen mathematischen Probleme zu entwickeln. Wir bündeln die vorhandenen Kompetenzen und verknüpfen existierende Teams", beschreibt Mathematiker Ulisse Stefanelli, der den Spezialforschungsbereich organisatorisch leitet, die Vorteile des vom FWF geförderten Projekts.
Projektgruppen mit Gemeinsamkeiten
Der Spezialforschungsbereich baut auf einem bereits etablierten, starken Netzwerk innerhalb der Fakultät und der Kooperation mit KollegInnen von IST Austria und der TU Wien auf und zielt darauf ab, dieses Netzwerk zu erweitern: Vom konkreten angewandten Problem über die mathematische Beschreibung als Modell bis hin zur Berechnung, Analyse und Simulation des Problems werden Projektgruppen über sogenannte Zwischengruppen miteinander verbunden. Diese sind die Schnittstelle zwischen existierenden Projektgruppen, die sich untereinander thematisch überschneiden.
Stefanelli, der selbst mit einer Forschungsgruppe im Spezialforschungsbereich vertreten ist, widmet sich mit seinem Kollegen Christian Schmeiser beispielsweise der mathematischen Modellierung biologischer Zellen. "Die Biologie hat Theorien über Zellbewegungen – und wir entwickeln das passende Modell dazu", erklärt Stefanelli: "Wir möchten die Eigenschaften von und die Beziehungen zwischen Modellen verstehen. Nur so können wir unsere mathematischen Mechanismen verbessern." Stefanelli beschäftigt sich mit der Variationsrechnung, Schmeiser bringt biologisches Vorwissen mit. Eine Verknüpfung, von der nicht nur die teilnehmenden WissenschafterInnen selbst profitieren.
Von Quanten und Zellen
"Das Gute an der Mathematik ist: Verstehen wir etwas in einem bestimmten Bereich, können wir versuchen, es auch in anderen Teilbereichen zu nutzen. Mathematik ist bis zu einem gewissen Grad universell", erklärt Stefanelli die Vorteile der Zusammenarbeit. Die Anwendungen und praktischen Probleme, die den Forschungsprojekten zugrunde liegen, sind so vielfältig wie die Teams selbst: "Die Spannbreite reicht von sehr kleinen Dingen wie Quanten bis hin zu großen Simulationen bei elektromagnetischen Wellen", beschreibt Stefanelli.
Die Verbindung zum angewandten Problem ist für Stefanelli ein wichtiger Faktor, egal ob etwa ein biologischer Prozess oder eine Ingenieuranwendung im Zentrum der Modellierung stehen: "Das Fachwissen der KollegInnen, die den Anwendungen näherstehen, nutzen wir, um Modelle korrekt zu entwickeln und zu überarbeiten." Denn um angewandte Probleme exakt zu modellieren, braucht es immer wieder den Rückbezug zur Realität. "Wenn wir sehen, dass eine Pflanze wächst und unser Modell sagt, sie stirbt, müssen wir nachjustieren", so der Forscher.
Ulisse Stefanelli ist seit 2013 Professor für Angewandte Mathematik und Modellierung an der Fakultät für Mathematik der Universität Wien und leitet seit 2017 den Spezialforschungsbereich "Komplexitätsbewältigung in PDE Systemen". Seine Forschungsschwerpunkte liegen in partiellen Differentialgleichungssystemen, Variationsrechnung und Continuum Thermodynamics. (© Universität Wien/Barbara Mair)
Realitätscheck
Für den Mathematiker ist die Kombination menschlicher und technischer Fähigkeiten essentiell: "Rechner sind extrem effizient, aber sie brauchen immer uns Menschen, um zu verstehen, was sie wirklich machen müssen." Um diese Prozesse künftig zu erleichtern, arbeitet das Projektteam an der Entwicklung einer Software, die Rechnern "erklärt", wie sie Simulationen durchführen sollen.
Der vorletzte Schritt im Forschungsprozess, die Simulation, liefert schließlich Antworten auf anfangs gestellte Fragen, wie etwa nach den weißen Blutkörperchen. Erfolgreich sei der Austausch dann, wenn die MathematikerInnen mit dem erworbenen Wissen ihre Modelle erneut verbessern können, so Stefanelli: "Wir lernen viel von unseren KollegInnen – und sie auch von uns." (pp)
Der Spezialforschungsbereich "Komplexitätsbewältigung in PDE Systemen" unter der Leitung von Univ.-Prof. Ulisse Stefanelli, PhD von der Fakultät für Mathematik der Universität Wien zielt darauf ab, ein starkes Forschungsnetzwerk zwischen dem ISTAustria, der Technischen Universität Wien und der Universität Wien aufzubauen und wird für die ersten vier Jahre als Spezialforschungsbereich vom FWF gefördert.