Alte Heilpflanzen gegen neue Viren
| 28. April 2020Organismen müssen sich wehren und bauen damit ein wirksames chemisches Arsenal auf. Pharmakognostin Judith Rollinger durchforstet altes Wissen zu diesen Heilpflanzen, um neue Wirkstoffe gegen Lungeninfektionen zu finden, die durch Influenza, das Coronavirus oder Pneumokokken verursacht werden.
Virale und bakterielle Infekte begleiten die Menschheit seit Anbeginn. Auch ohne die winzigen Erreger benennen zu können, linderten unsere Vorfahren Symptome wie Husten, Fieber oder Atemwegsprobleme mit natürlichen Wirkstoffen. Judith Rollinger, Leiterin der Arbeitsgruppe "Phytochemistry & Biodiscovery" am Department für Pharmakognosie der Universität Wien, arbeitet bei der Suche nach potenten antiviralen Wirkstoffen mit der Natur zusammen, "der besten Chemikerin der Welt", wie die Pharmakognostin betont.
"Das über mehrere Generationen weitergegebene traditionelle Wissen nützen wir als empirischen Erfahrungsschatz, der uns bei der Vorauswahl von potenziellen Wirkstofflieferanten hilft." Eine Überlebensstrategie von Pflanzen und anderen Organismen ist es, sich mit eigenen Stoffwechselprodukten gegen Schädlinge, Fraß und Krankheiten zu schützen. Auf der Suche nach neuen Arzneistoffen gelte es, gezielt dieses chemische Arsenal anzuzapfen, erklärt Rollinger.
Strenge Selektion in vitro und in silico
Im Rahmen eines FWF-Projekts hat ein Team rund um Judith Rollinger überliefertes Heilwissen mit modernen Methoden nach neuen Wirkstoffen aus der Natur durchforstet. Mit etablierten Forschungskollaborationen, Methoden der Chemoinformatik und Zellkulturen wurden vielversprechende Kandidaten ausgesiebt. "Antivirale Medikamente sind nicht leicht zu entwickeln, weil Viren menschliche Wirtszellen zur Vermehrung und Verbreitung nutzen. Um auch Stoffe zu entdecken, deren Wirkmechanismus wir noch nicht kennen, haben wir mehrgleisig analysiert", führt die Projektleiterin aus.
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Zunächst wurden bis zu 2.000 Jahre alte schriftliche Quellen aus dem antiken Griechenland, aber auch der Traditionellen Chinesischen und Europäischen Medizin und Werke der Volksheilkunde nach typischen Symptomen durchforstet. In 160 Fällen konnte die überlieferte Heilwirkung einer Pflanze, eines Pilzes, von Flechten oder Moosen eindeutig zugeordnet und das biologische Material gesammelt werden. Diese wurden in einer Datenbank erfasst und jeweils Extrakte hergestellt, die wiederum Hunderte chemische Verbindungen enthalten können.
Wirksamer Zellschutz und verlässliche Störung
In Kooperation mit Michaela Schmidtke vom Uniklinikum Jena wurden die natürlichen Extrakte gegen verschiedene Viren, die sich im respiratorischen System einnisten, in Stellung gebracht. In vitro wurde beobachtet, wie gut die ausgewählten Naturstoffe die infizierten Lungenepithelzellen vor Schäden schützen können. Die 28 besten Kandidaten wurden anschließend in der Petrischale auf Zellkulturen angesetzt, die mit respiratorischen Pathogenen infiziert wurden, darunter auch Arzneistoff-resistente Influenza-Virenstämme.
Verglichen wurde deren antivirales Potenzial mit Tamiflu. Dieses etablierte Grippe-Medikament ist ein sogenannter Neuraminidase-Hemmer, gegen den manche Erreger bereits resistent sind. Tamiflu blockiert das virale Oberflächenprotein, sodass bereits in der Wirtszelle vermehrte Viren sich nicht ausbreiten können. "Wenn sich ein Extrakt als aktiv erweist, beginnt die phytochemische Knochenarbeit. Wir analysieren die Zusammensetzung, um danach zielgerichtet antiviral wirksame Verbindungen zu isolieren", so Rollinger.
Dualer Neuraminidase-Hemmer
Mögliche neue und resistenzüberbrückende Neuraminidase-Hemmer wurden mit Hilfe chemo-informatischer Ansätze ausfindig gemacht. Dabei gelang es vor allem durch die Kollaboration mit Fachleuten für Chemoinformatik der Universitäten Innsbruck und Hamburg, die 3D-Struktur der Neuraminidase-Bindestelle zu modellieren und Verbindungen vorherzusagen, die dort binden und sie blockieren können. Als besonderen Erfolg wertet Judith Rollinger, dass Naturstoffe mit dualer Wirkung identifiziert wurden. Sie hemmen gleich zwei für Lungeninfektionen verantwortliche Pathogene: Influenzaviren und Pneumokokken (Streptococcus pneumoniae).
Inhaltsstoffe aus der Wurzelrinde des Maulbeerbaums (Morus alba) hindern gleichzeitig die virale und die bakterielle Neuraminidase an der Arbeit. In einem Folgeprojekt finanziert von der Schweizer Doerenkamp Stiftung wird die klinische Forschung an den bestgeeigneten Kandidaten weiter vorangetrieben. Jetzt will die Gruppe in Wien in einem Folgeprojekt außerdem die Brücke zum Coronavirus schlagen, das wie das Influenzavirus die Lunge stark angreift, und angesichts der Pandemie derzeit im Fokus internationaler Forschungsgruppen weltweit steht. (APA/red)
Judith M. Rollinger ist seit 2014 Professorin für Pharmakognosie/Pharmazeutische Biologie am Department für Pharmakognosie der Fakultät für Lebenswissenschaften und leitet dort die Abteilung "Phytochemistry & Biodiscovery". Ihre Forschungsschwerpunkte sind Phytochemie und Biodiscovery, insbesondere die Auffindung von bioaktiven Naturstoffen. (© Petra Schiefer)
Die Publikation "Natural products against acute respiratory tract infections: Strategies and lessons learned" (Autor*innen: Langeder J., Grienke U., Chen Y., Kirchmair J., Schmidtke M., Rollinger J.M.) ist im Februar 2020 im Journal of Ethnopharmacology erschienen.