Mit dem Computer die Welt simulieren
| 20. Januar 2011Supercomputer wie der "Vienna Scientific Cluster" (VSC) sind mit einer Leistung von mehreren Billionen Rechenschritten pro Sekunde in den Naturwissenschaften ein begehrtes Forschungsinstrument. Doch was fangen die WissenschafterInnen mit der enormen Rechen-Power überhaupt an? Um dieser Frage nachzugehen, sprach "uni:view" mit dem renommierten Physiker Georg Kresse, Leiter des im Juni 2010 gestarteten Spezialforschungsbereichs "Vienna Computational Materials Laboratory (ViCoM)".
"Der VSC ist ein wichtiges Werkzeug in der österreichischen Forschungslandschaft", stellt Georg Kresse, Professor für Computational Quantum Mechanics an der Fakultät für Physik, klar. Der Supercomputer, der im Herbst 2009 von der Universität Wien, der Technischen Universität und der Universität für Bodenkultur in Betrieb genommen wurde, ist derzeit der schnellste Rechner Österreichs: 424 Rechnerknoten und 3.392 Prozessorkerne schaffen eine Leistung von 35 Billionen Rechenschritten pro Sekunde.
18 Mio. Stunden in 3 Jahren
Bei den heimischen WissenschafterInnen ist die enorme Rechen-Power sehr gefragt: Der VSC ist seit seinem Start voll ausgelastet. "Computersimulationen haben sich in vielen wissenschaftlichen Bereichen als unverzichtbares Forschungsinstrument etabliert. Sie stellen ein drittes, komplementäres Standbein neben den traditionellen theoretisch-analytischen und den experimentellen Methoden dar", erklärt der 43-jährige Physiker.
Um Rechenzeit müssen sich die beteiligten Universitäten aber dank eines genau geregelten Vergabesystems nicht streiten. "Die Ressourcenaufteilung ist an international evaluierte und geförderte Projektanträge gebunden. Unserem Spezialforschungsbereich stehen 20 Prozent der VSC-Kapazitäten zur Verfügung", schildert Kresse. Allein in diesem Jahr hat der Spezialforschungsbereich bereits etwa vier bis fünf Mio. Stunden am VSC verbraucht. Insgesamt wurden ihm über eine Dauer von drei Jahren 18 Mio. Stunden zugesagt.
Die Schrödingergleichung als Weltformel
Bleibt zu klären, was der Materialphysiker mit seiner VSC-Zeit genau anfängt: "Im Fall von ViCoM, einer Wissenschaftskooperation zwischen der Universität Wien und der TU, verfolgen wir ein sehr ambitioniertes Ziel: Wir wollen mithilfe des Computers neue Hochleistungsmaterialien simulieren und vorhersagen", so der Wissenschafter. Als Ausgangspunkt dient ihm die berühmte Schrödingergleichung, die Grundgleichung für die Dynamik von Quantensystemen, mit der sich laut Kresse ein Großteil der Phänomene auf der Erde erfassen und beschreiben lassen.
"Die Schwierigkeit dieser Gleichung liegt darin, dass sie nur für sehr kleine Systeme – mit lediglich ein oder zwei Elektronen – exakt lösbar ist. Bei jedem zusätzlichen Elektron steigt der Rechenaufwand exponentiell an", betont er. Genau deshalb sei ein Hochleistungsrechner notwendig, mit dem sich bei geeigneten Näherungen auch größere Systeme mit bis zu 100.000 Elektronen simulieren lassen. "Je mehr Rechenleistung wir zur Verfügung haben, desto genauere Methoden können wir einsetzen. Für die Anwendungen, die wir planen, ist der benötigte Rechenaufwand nach oben hin de facto unbegrenzt."
Echte Revolutionen möglich
Wenn es dem Team gelänge, die Schrödingergleichung auch für größere Viel-Elektronensysteme hinreichend genau zu lösen, könne laut Kresse im Grunde jedes Phänomen simuliert werden, das unsere Realität bestimmt. Dies wäre nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die Industrie ein wichtiger Fortschritt.
Denn das Anwendungspotenzial ist breit gefächert – vor allem im Bereich der Katalyse, Halbleiterindustrie und neuer Nano-Materialien sind hier laut Kresse noch "echte Revolutionen" möglich: "Wir bewegen uns auf einem der wichtigsten Forschungsgebiete der Gegenwartsphysik: der Beschreibung von einzelnen Quanten in Molekülen und Festkörpern." In diesem Sektor werden derzeit pro Jahr im Durchschnitt 25.000 wissenschaftliche Artikel publiziert. Diese Arbeiten greifen auf Methoden zurück wie sie im ViCoM entwickelt werden. Die am Spezialforschungsbereich teilnehmenden WissenschafterInnen sind dabei schon heute in vielen Bereichen international führend.
Keine Durchbrüche ohne Investitionen
"Richtige Durchbrüche sind hier aber nur dann möglich, wenn den Forschern und Forscherinnen die notwendigen Werkzeuge zur Verfügung stehen", gibt Kresse zu bedenken. Um die Entwicklung auf internationaler Ebene nicht zu verschlafen, müsse man technologisch am Ball bleiben. "Der VSC ist keine singuläre Investition. Alle zwei, drei Jahre müssen die Rechner mit neuer Hardware aufgerüstet werden." Für den kontinuierlichen Ausbau des Supercomputers haben die beteiligten Universitäten im Zuge der Leistungsvereinbarungen mit dem Wissenschaftsministerium in Summe zwölf Mio. Euro erhalten.
Kresse, der sich mit der Entwicklung des "Vienna ab initio Simulation Package" (VASP) – dem weltweit führenden Computerprogramm zur Simulation von Festkörpern mit quantenmechanischen Methoden – an die internationale Forschungsspitze gesetzt hat, sieht die geplanten Investitionen als unumgängliche Notwendigkeit: "Wenn Forschungsgruppen zur weltweiten Spitze zählen, müssen sie auch entsprechende Förderungen erhalten. Nur mithilfe dieser Geldmittel können wir das, was wir in den letzten 15 Jahren aufgebaut haben, konsequent weiter verfolgen." (ms)
Der Spezialforschungsbereich "Vienna Computational Materials Laboratory" (ViCoM) unter der Leitung von Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Georg Kresse von der Fakultät für Physik wurde vom FWF im Dezember 2009 mit einem Bewilligungsvolumen von rund 3,9 Mio. Euro genehmigt. Die Wissenschaftskooperation, die sowohl an der Universität Wien als auch der Technischen Universität Wien angesiedelt ist, startete im Juni 2010 und hat eine Laufzeit von vier Jahren.