Netz oder System, das ist hier die Frage

Die Zoologin Sabrina Kaul-Strehlow vom Department für Integrative Zoologie der Universität Wien untersucht in sogenannten Eichelwürmern die Evolution des Nervensystems.

Ihr letzter Ausflug führte Sabrina Kaul-Strehlow für fünf Wochen nach Japan ans Meer. Nein, nicht der Erholung wegen – sie war auf der Suche nach Eichelwürmern. "Die Tiere, die fast so aussehen, wie sie heißen, können als Erwachsene 30 bis 40 Zentimeter lang werden", sagt sie. Und weiter: "Ich war auf einer Forschungsstation am nördlichsten Zipfel der Hauptinsel". Dort, am Strand, im knietiefen Wasser, sammelte Kaul-Strehlow Balanoglossus misakiensis ein. Wozu? Die Wissenschafterin vom Department für Integrative Zoologie erforscht die Evolution des Nervensystems; insbesondere möchte sie wissen, ob das Nervensystem ursprünglich einem Nervennetz wie bei basalen Metazoen entsprach.

In ihrem Lise-Meitner-Programm-Proposal liest sich das so: "Um diese Frage beantworten zu können, ist die spezielle Ausgestaltung des Nervensystems bei Enteropneusten (Eichelwürmer), einer ursprünglichen Gruppe von deuterostomen Tieren, von besonderem Interesse und spielt wahrscheinlich eine entscheidende Rolle bei der Aufklärung der Evolution des Nervensystems der Deuterostomia."

Von Seesternen, Seescheiden und Seeigeln

Zu den Neumündern (Deuterostomia) gehören die Wirbeltiere, aber auch Seesterne, Seescheiden und Seeigeln. Warum ausgerechnet diese Gruppe? Wenn man sich vor Augen halte, dass alle Wirbeltiere ein Zentrales Nervensystem, ein Gehirn, ein Rückenmark, von dem einzelne Nervenbahnen abgehen, haben und dem gegenüber Tiere, die erdgeschichtlich viel älter sind, wie die Seeanemonen, die nur ein dezentrales Nervennetz haben, sei das schon sehr spannend für die Evolution des Nervensystems. "Da stellt sich natürlich die Frage, wie es zur Entwicklung des hochkomplexen Zentralen Nervensystems gekommen ist, und wie das am Anfang meiner Tiergruppe ausgeschaut hat." Und hier kommt der Eichelwurm, ebenfalls ein Neumünder, ins Spiel: "Er hat einen Mix aus Nervennetz und Zentralem Nervensystem." Wie sich das genau entwickelt, möchte Kaul-Strehlow nun herausfinden.

Will die Biologin ihr Forschungsziel erreichen, muss sie erst einige Hindernisse überwinden. Der Eichelwurm kann anders als z.B. die Seeanemone – ein beliebtes Forschungsobjekt – nicht gezüchtet und im Universitätsaquarium gehalten werden. "Sie leben als Erwachsene eingegraben im Meeresboden, im Gezeitenbereich, verbreiten sich also nicht großartig." Damit sie aber nicht komplett eingeschränkt sind, haben diese Tiere eine Larvenphase. Während dieser etwa zehn Tage dauernden Zeit schwimmt die Larve im Meer herum, ernährt sich von Plankton und wird durch das Wasser weiterverbreitet.


"Die Eichelwürmer reproduzieren nur einmal im Jahr. Man muss also immer zum rechten Zeitpunkt ins Feld fahren, sie absammeln, Weibchen und Männchen bestimmen, sie zum Ablaichen bringen, die Embryonen aufziehen und füttern. Alle Entwicklungsphasen müssen gezüchtet und fixiert werden, damit ich die Tiere anschließend in Wien im Labor untersuchen kann. Das macht es aufwändiger", sagt Kaul-Strehlow.  



Richtiger Zeitpunkt Metamorphose

Kaul-Strehlow ist nicht an den ausgewachsenen Tieren interessiert, sondern an der Metamorphose, jenem Zeitpunkt, zu dem sich die Larven auf den Boden setzen, um sich ins Juvenilstadium umzuwandeln. Daher versucht sie, die Larven exakt in diesem Stadium zu erwischen, abzufixieren und zu schauen, wie sich der juvenile Wurm entwickelt. Im Bild: Zuchtbedingungen der Larven/Juvenilen im Labor in Japan.


Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme (REM) einer Larve von Balanoglossus.



Jetzt kommt die eigentliche Forschungsarbeit: Die Zoologin untersucht die Tiere mit immunozytisch-chemischen Methoden. "Ich nehme Antikörper gegen ganz spezifische Neurotransmitter, wie z. B. Serotonin. Diese Antikörper docken nur am Neurotransmitter an und bringen durch einen bestimmten Farbstoff und mittels eines konfokalen Laserscanmikroskop in weiterer Folge das Nervensystem zum Leuchten", erklärt die Biologin, die so die Morphologie des Tieres sichtbar macht: "Ist da nur ein Nervennetz vorhanden, oder kann ich schon Hinweise auf ein Gehirn oder zentralisierte Bereiche entdecken?"

Zentralistisch organisiertes System

Zugegeben, als sie angefangen habe zu studieren, dachte sie noch: "Ach, ich will in Afrika mit Löwen arbeiten." Schnell bemerkte die Jungforscherin, dass Wirbeltiere nur ein kleiner Teil sind, "noch dazu sein ziemlich abgeleiteter – also eine junge Entwicklung. Ich bin aber viel eher an früheren Entwicklungsschritten interessiert. Sie sind einfach spannender!"
Und so kann Kaul-Strehlow tatsächlich mit ersten Ergebnissen über die Evolution des Nervensystems beim Eichelwurm aufwarten: "In der alten Literatur wurde es als Nervennetz über den ganzen Körper hinweg beschrieben, plus zwei Stränge", sagt sie. "Aus meinen Untersuchungen kann ich nicht bestätigen, dass es dieses Nervennetz über den ganzen Körper gibt. Das System ist viel zentralisierter organisiert und gar nicht so diffus, wie es bisher beschrieben wurde."  

Gene der Gehirnentwicklung


In einem nächsten Schritt will die Evolutionsforscherin molekulargenetische Untersuchungen anschließen: "Wir wollen uns im Wurm genau jene Gene anschauen, von denen wir etwa aus Mäusen wissen, dass sie an der Gehirnentwicklung beteiligt sind. Wo genau sind diese Gene während der Entwicklung bei meinem Tier aktiv, gibt es Ähnlichkeiten und wie genau sehen die aus?" Sie überlegt sogar, ihre Forschungen auf andere Arten auszuweiten. "Wenn man evolutionsbiologisch forscht, muss man vergleichend arbeiten", begründet sie. Denn das Ziel ist, in der Evolution immer weiter zurück zu gehen, um irgendwann auf den Urneumünder schließen zu können, sagt sie. "Und zu klären: hatte der schon ein Zentrales Nervensystem oder doch ein diffuses Nervennetz."